Bühnenangst als Chance

Zusammenfassung

Dieser Aufsatz unterstreicht auf der Basis neurobiologischer Erkenntnisse die Bedeutung somatischer Ansätze im Umgang mit Bühnenangst bei Musikern.
Motorisches und emotionales Lernen sind als im Wesentlichen subkortikal-implizite Prozesse untrennbar. Das Ziel der Therapie von Musikern mit Bühnenangst ist die Erweiterung ihrer Möglichkeiten zur ganzheitlichen Selbstregulation, die gegebenenfalls eine Nachreifung ihrer Instrumental - bzw. Stimmtechnik mit einschließt.
Ausgewählte Beispiele aus der Musikerpraxis verdeutlichen die Arbeitsweise zweier Ansätze, der Dispokinesis und der Formativen Psychologie, die sich in der Musikerpraxis bewährt haben.

Schlüsselwörter
Dispokinesis, Formative Psychologie, Neurobiologie, Bühnenangst, Selbstregulation

Einleitung
Bühnenangst ist unter Musikern noch immer mit einem Tabu belegt. Wer sich outet, läuft Gefahr, sich zu disqualifizieren. Der Körper zeigt jedoch Grenzen auf, indem die innere Anspannung unüberhörbare Symptome auslöst. Es ist die somatische Verkörperung der Angst, die die Spielfähigkeit einschränkt, das Gelingen bedroht und den Musiker „blamiert“.
Die „Angst vor der Angst“ führt häufig zum Versuch, sie zu verbergen. Die daraus wiederum resultierenden Verkrampfungen oder Blockaden verstärken Unsicherheit, Stress und die Befürchtungen zu Scheitern – ein Teufelskreis.
In >Biologie der Angst< beleuchtet G. Hüther die biologische Bedeutung von Angst und Stress für unsere Selbstorganisations- und Anpassungsprozesse.
Stresssituationen fungieren als Trigger für Entwicklung und Reifungsprozesse, weil sie uns zwingen, auf Herausforderungen, in denen unsere gewohnten Muster versagen, neue Lösungen zu finden. Die Art und Weise, wie wir früher in bedrohlichen Situationen unsere Sicherheit wiederherstellten, führt in der Gegenwart nicht selten zu Reaktionen, die unsere Angst und Hilflosigkeit verstärken - bis wir bereit sind, neue Wege zu gehen.
Den meisten Musikern ist durchaus bewusst, dass ihr Bühnenproblem mit Leistungsdruck, Versagensangst, Perfektionsansprüchen, belastenden Erfahrungen und negativen Beziehungen in ihrem Leben zu tun hat. Sie kommen häufig mit positiven psychotherapeutischen Vorerfahrungen in die Musikerpraxis, haben aber Schwierigkeiten, diese Erfahrungen auf der Bühne und im Umgang mit dem Instrument umzusetzen.

„Haltung und Bewegung sind Ausdruck“ G.O.v.d. Klashorst [2]
Die Unsicherheit vieler Musiker auf der Bühne kann in bestimmter Hinsicht sogar berechtigt sein. Dies zu erfahren und hinzulernen zu können löst bei den meisten schon Erleichterung aus. Musikmachen kann buchstäblich leichter werden!
Hat ein Bläser beispielsweise eine ungenaue Vorstellung über eine gute „Atemstütze“, besteht durchaus Grund, dem Konzert oder Probespiel mit Zweifeln entgegen zu sehen. Eine inaktive Haltung kann z.B. die Ursache für Atemprobleme und Ansatzunsicherheiten sein. Häufig handelt es sich um eine Gewohnheitshaltung, die dem Betreffenden nicht bewusst ist, aber Entscheidendes über sein Selbstkonzept als Musiker verrät. Die Bewusstwerdung dieses Zusammenhangs ist die Voraussetzung für eine Änderung. Die Arbeit am Haltungsausdruck verbessert nicht nur die technische Verlässlichkeit, sondern ermöglicht darüber hinaus z.B. auch eine wünschenswerte Weiterentwicklung zu mehr Präsenz auf der Bühne.
Bei vielen Streichern führt das „Festhalten“ des Bogens zu einer hohen Spannung in Oberarm und Schulter. Die hieraus resultierende grobmotorische Bewegungsinitiative beim Streichen erschwert einen pianissimo Einsatz an der Spitze, insbesondere dann, wenn die Aufregung hinzu kommt. Auch das berühmte Bogenzittern ist häufig die Folge dieses ungünstigen Bogengriffs - ob dies dem Streicher nun bewusst ist oder nicht. Gleichzeitig kommt es meistens zu Schwierigkeiten bei allen Orchesterstellen in der Art der „Verkauften Braut“ (Oper von F. Smetana: Eine Art perpetuo mobile im Springbogen zu Beginn der Ouverture) oder rasche Ermüdung bzw. Verkrampfung in typischen Mittelstimmenpassagen, wie sie in Mozartopern vorkommen.
Auf der Basis eines guten Bodenkontakts beim Sitzen und Stehen ermöglicht eine feinmotorische Bewegungssteuerung aus der Hand, den Bogen auf der Saite abzulegen. Dieser stabile Kontakt zum Instrument gibt dem Musiker mehr Ruhe und Sicherheit.
Die Verbesserung von Spielhaltung und Spieltechnik im Sinne einer sensomotorischen Nachreifung ist oft ein wesentlicher Teil der Arbeit an der Bühnenangst. Verlässliche Vorstellungen in bezug auf Haltung, Atmung, und Bewegungen am Instrument erhöhen die Kompetenz, führen zu Erfolgserlebnissen und verbessern das Selbstbewusstsein.
Dieses „Know how“ fehlt häufig in erschreckendem Maße! Insbesondere die sogenannten Naturtalente kompensieren oft lange und gekonnt, bis sie an eine Belastungsgrenze kommen, die sie unerwartet trifft und zutiefst verunsichert! Solche Krisen beenden manchmal schmerzhaft eine letztlich unreife Form der Sensomotorik und damit auch des künstlerischen Ausdrucks. Konstruktiv aufgegriffen, führen sie zu einer reifen Selbstkompetenz, die ihnen schließlich neue, bisher ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet.
In einem solchen Zusammenhang ausschließlich über die Angst zu „psychologisieren“ ist ein fataler Irrtum, weil die Chance zu einer wichtigen somatischen Entwicklung nicht zuletzt mit dem Instrument verpasst wird!

„Gefühle haben eine somatische Architektur“. (S. Keleman) [2]
S. Keleman, der Begründer der Formativen Psychologie, stellt fest: >Üblicherweise bleiben unsere Probleme bestehen, weil wir nicht wissen, wie wir sie organisiert (to organize) haben, und wie wir diese Organisation wieder auflösen (to disorganize) können. (...) Wir haben die Wahl, uns entweder weiterhin mit den alten Mustern zu identifizieren oder uns neu zu organisieren.<
Die Formative Psychologie steht für einen somatischen Ansatz, der in den biologischen und anatomischen Prozessen des Menschen begründet ist. Ererbte und erlernte körperliche Muster von der Geburt über Kindheit, Pubertät, Erwachsensein bis zum Tod sind morphologische Bausteine für Erfahrungen, Gefühle, Denken und Verhalten. Demzufolge sind Kognition, Emotion und Motorik gleichermaßen von Bedeutung und werden parallel bearbeitet.

„Anatomie ist Schicksal“ S. Freud
Aus dem formativen Blickwinkel stellt sich die Frage: Wie verkörpert ein Mensch seine Erfahrungen, Gedanken, Gefühle und sein Verhalten? In welchen somatischen Mustern reagiert er bewusst oder unbewusst auf die Herausforderungen seines Lebens, formt Identität, sorgt für Befriedigung und gestaltet Beziehungen?
Stress und Angst beispielsweise werden nicht verstanden als ein Zustand des Geistes, der irgendwo im Körper Spannung erzeugt. Vielmehr geht der formative Ansatz von den somatisch-emotionalen Mustern aus, die sich in zellulären und muskulären Kontraktionen verkörpern. Das Gehirn als Teil dieses Organismus ist gleichermaßen in diesen formativen Prozess involviert und erzeugt dem entsprechend Empfindungen und Gedanken.
Diese auf der biologischen Existenz des Menschen beruhende Konzeption führt zu einem Verständnis seines lebenslangen Formungsprozesses: Der Körper ist nicht das Objekt des Bewusstseins. Der biologische Prozess umfasst Gefühle, Denken, Vorstellungen und Handeln.

Neuroplastizität: Komplexe individuelle Realität in neuronalen Schichten
Das Gehirn spiegelt und modifiziert exterozeptive Reize aus seiner Umwelt. Wiederholungen führen zu stabilen mehrdimensionalen Repräsentationen in Form sog. neuronaler Karten. So entsteht fortlaufend unser ganz individuelles und einmaliges Bild von uns selbst und von dem, was wir die Wirklichkeit nennen. Die interozeptiven Informationsströme, die wir durch unsere inneren Sinnesorgane in Muskeln, Gelenken und Organen registrieren, eröffnen dem Gehirn den Zugang zu unseren Gefühlen und Emotionen, letztlich zu uns selbst. Wir sind unser Körper.
Neben dem ständigen Dialog zwischen Körper und Gehirn als Teil des Organismus findet auch ein Dialog im Gehirn selber statt, ein reger Austausch zwischen Kortex, Limbischem System und den instinktiven Strukturen des Hirnstamms.
Wir wissen heute, dass somatisches Lernen lebenslang eine neuronale Reorganisation ermöglicht.

Gefühle und Verstand im Dialog – die Hierarchie des menschlichen Gehirns
In der obersten bewusstseinsfähigen Ebene, der Großhirnrinde, werden willkürlich gelernte Bewegungsmodelle und Handlungskonzepte repräsentiert, komplexe Muster wie Lernen, Erinnern, Planen, Problemlösung und Bewusstsein. Das Erlernen und die Ausführung komplizierter motorischer Bewegungsabläufe, wie sie beim Musikmachen erforderlich sind, wären ohne diese jüngste Errungenschaft der Evolution nicht denkbar.
Unser Verstand, das rationale System der Großhirnrinde, ermöglicht uns die Bewusstwerdung und Versprachlichung unserer Emotionen, kann aber unser Verhalten nicht unmittelbar steuern. Damit eine Handlung verfügbar wird, bedarf es zusätzlich impliziter subkortikaler Strukturen:
Dies geschieht über die sog. Basalganglien und das Kleinhirn, die ihrerseits unmittelbar beeinflusst werden von anderen Teilen des Limbischen Systems.
Das limbische System spielt eine wichtige Rolle sowohl in der Bereitstellung unseres Handlungsgedächtnisses als auch in der Regulation und Konditionierung unseres emotionalen Verhaltens. Es empfängt und reguliert wiederum Informationen aus dem Hirnstamm, den es in einer ringähnlichen Struktur umschließt. Dieses älteste, vegetative oder autonome Nervensystem bildet als unterste Ebene die Basis für all unsere elementaren körperlichen Bedürfnisse und starken Affekte ( z.B. „flight or fight“).
Die komplexe Verknüpfung und Interaktion der subkortikalen limbischen Areale mit der bewusstseinsfähigen Hirnrinde einerseits und den vegetativen Zentren andererseits zeigt, dass mentale, emotionale, vegetative und motorische Aspekte unseres Verhaltens nicht voneinander zu trennen sind.

>Bottom-up< Verarbeitung
Wie ist es zu verstehen, dass sich die Bühnenangst von Musikern häufig als immun erweist gegenüber psychologischen Erkenntnissen, „gutem Zureden“ oder dem vernünftigen Herunterschrauben der Leistungserwartung?
Wir alle erinnern Stresssituationen, in denen wir kaum imstande waren, mit Hilfe unseres Bewusstseins die Lage unter Kontrolle zu halten. Es scheint so zu sein, dass unsere Gefühle unseren Verstand eher beherrschen als umgekehrt.
Das ist im Prinzip auch gut so. Unsere vertrauten Stressreaktionen sind tief verkörperte Muster, die der Lebenserhaltung dienen. Das gilt auch für die Bühnenangst von Musikern. Emotionen sind das Kondensat unserer Lebenserfahrung. An ihnen orientiert sich die Bewertung aktueller Situationen, die zu entsprechenden Reaktionsmustern führt, die eine somatische, motorische, emotionale und mentale Realität haben.
Welche Rückschlüsse ergeben sich hieraus für das Umlernen? Da die oberste, bewusstseinsfähige Ebene unseres Nervensystems so stark von der emotionalen Konditionierung der darunter liegenden Schichten beeinflusst wird, ist es naheliegend, auch hier „von unten nach oben“ zu arbeiten.
Dabei ist zu beachten, dass emotionales Umlernen langsam geschieht, sich dafür aber als nachhaltig erweist! (Anmerkung: Bei Angst und Panik erfolgt das emotionale Lernen sehr schnell.) Es ähnelt dem impliziten subkortikal vermittelten Lernen von Fahrradfahren oder Musikmachen. Auch die Erarbeitung eines musikalischen Werkes ist ein langwieriger Prozess des Einkörperns von Ausdrucksbewegungen. Das Ergebnis vieler Wiederholungen ist umso verlässlicher, je lebhafter der Dialog zwischen somatischer Wahrnehmung, Emotion und Bewusstsein beim Üben war.

Die >Wie- Übung als Akt der Selbstregulation
Solche durch Wiederholung entstandenen stabilen und komplexen neuronalen Karten dienen dem präfrontalen Kortex bzw. dem Hippocampus als Handlungsvorlage für zukünftiges Verhalten. Über einen Prozess der Rückkoppelung können wir unsere kortikalen Repräsentationen beeinflussen, indem wir gezielt unsere Körperempfindungen verändern.
Keleman entwickelte die sog. WIE-Übung, in der durch schrittweises Intensivieren und Desorganisieren eines muskulären Musters seine Bedeutung erkannt und verändert werden kann. Fein dosierter willentlicher muskulärer Einsatz ermöglicht den kortikalen Einfluss auf einen ursprünglich unwillkürlichen Reflex. Die Interaktion zwischen dem muskulären Modell eines Verhaltens und der entsprechenden neuronalen Karte verlinkt das Verhalten mit dem Bewusstsein.
Die WIE-Übung ist ein kreativer Akt der Selbstregulation. Dies meint die Fähigkeit, somatisch Einfluss nehmen zu können auf die Qualität seiner Erfahrungen und seines Verhaltens. Menschen können lernen, ihr Schicksal willentlich mit zu gestalten. Das Ziel ist lebenslanges Wachstum und Reifen in eine persönliche Identität - jenseits ererbter und gesellschaftlich postulierter Verhaltensmuster.

Lampenfieber und Bühnenangst als unterschiedliche Intensitäten eines Erregungskontinuums
Lampenfieber kann sich zeigen als ein Muster leicht erhöhter Erregung, das die Leistungsbereitschaft von Musikern steigert. In diesem Zustand von Wachheit, Aufmerksamkeit und Vorfreude wird oft erst das „gewisse Etwas“ freigesetzt, das einen Auftritt zu einem besonderen Erlebnis werden lässt. Auf der Stress-Skala handelt es sich nach Hüther, [1] um eine >kontrollierbare Herausforderung<.
Intensiviert sich dieses Muster erhöhter Aufmerksamkeit, können Schreck und Stress entstehen: Im Gegensatz zu der niedrigen Intensitätsstufe des Lampenfiebers lähmt Bühnenangst die Leistungsbereitschaft, indem sie die Motorik blockiert. Aus Aufmerksamkeit wird Fokussieren, aus Fokussieren wird Alarmiertsein, die Wahrnehmung engt sich immer mehr ein – möglicherweise bis zum Blackout. Tatsächlich wird Bühnenangst von den Betroffenen erfahren als unkontrollierbare Herausforderung, die Panik, Dissoziation oder Hilflosigkeit erzeugt.

Ein Beispiel für die WIE-Übung
Musiker lernen, sich beim Spielen zuzuhören. Dieses aufmerksame Zuhören geschieht oft unbewusst wie von außen, mit den Ohren eines kritischen Zuhörers. Es hat eine kontrollierende, (ab-) wertende Qualität und bemisst „richtig und falsch“ bzw. „gut oder schlecht“ usw..
Schritt 1: Wie höre ich mir beim Spielen zu? Was tue ich in den Augen, im Gesicht, mit der Kopfhaut, im Nacken, in den Schultern, mit der Bauchdecke?
Schritt 2: Wie ist es, diese Organisation in kleinen Schritten zu intensivieren? Erkenne ich ein vertrautes Muster?
Wie beeinflusst dies die Art, wie ich mir zuhöre? Wie ist meine Verfassung, der Kontakt zu mir selbst und nach außen?
Schritt 3: Wie ist es, die muskuläre Intensität dieses Musters in Schritten zu desorganisieren?
Wie höre ich mir auf diese Weise zu? Wie erfahre ich in dieser Verfassung die Musik, mein Spiel und mich selbst?
Schritt 4: Auf welcher Stufe möchte ich bleiben? Was taucht auf, wenn ich hier warte? Welche Qualität hat das Zuhören hier für mich?
Schritt 5: Was tue ich mit dieser Erfahrung? Wie wäre es, in dieser Verfassung Musik zu machen? Oder kehre ich zu meiner gewohnten, mir vertrauten Weise zurück?

Emotion versus Kontrolle
H. Jacoby, Komponist und Musikpädagoge [5], betont die Bedeutung der >Empfänglichkeit< als Voraussetzung für die musikalische Entwicklung und das Schöpferische schlechthin. Er postuliert: >Das Berührt-Werden von Musik sollte dem Organisieren von Spieltechnik vorausgehen.< Dies gilt nicht nur für den Übeprozess, sondern insbesondere auch für die Konzertsituation selbst. Wenn Kontrolle als kortikale Qualität der Modus der Vorbereitungsphase war, wird es kaum möglich sein, sich im Konzert frei zu spielen. Stattdessen sollte beim Üben von Anfang an die Organisation der Bewegungsabläufe vom musikalischen Ausdruck her motiviert sein. Entscheidend ist, sich früh genug und immer wieder vom technischen Organisationsprozess zu lösen und seine innere Bewegung (E-motion) in die äußeren Spielbewegungen einfließen zu lassen. Das erfordert zunächst Mut, insbesondere im Hinblick auf das Probespiel, aber: Kontrolle bedeutet Hemmung!

1. Fallbeispiel
Eine Cellistin hatte das kontrollierende Üben so weit perfektioniert, dass sie irgendwann auf der Bühne erschreckende Erfahrungen von Abspaltung machte. Ein Jahr Celloabstinenz und Psychotherapie waren erste Schritte „zurück ins Leben“, die in ihr den Wunsch reifen ließen, anders als bisher mit ihrem Instrument umzugehen. Sie lernte ihre überkontrollierende Art, Sicherheit zu organisieren, nach und nach abzubauen. „Weniger sicher“ erfuhr sie als „weicher“, „empfänglich“, „berührbar“. Dies führte zu einem völlig neuen Übestil, für den sie mit beglückenden Bühnenerlebnissen belohnt wurde. Sie erkannte die frühere Lebendigkeit wieder, mit der sie als Kind anfangs Musik gemacht hatte.
Auch die Vorstellung des „Fühlenden Hörens“ hat sich für viele Musiker als hilfreich erwiesen. In diesem vergleichsweise subkortikalen Modus kann das synästhetische Zusammenspiel zwischen Gehör und Bewegungssinn ungehindert wirken. Ein Gitarrist drückte es so aus: In diesem Zustand will ich es gar nicht so genau wissen. Dafür genieße ich es!
In diesem Sinne impliziert eine gute Bühnendisposition die Fähigkeit, auf der Bühne berührbar und präsent zu bleiben. Dies zu Üben sollte ein wichtiger Bestandteil der Vorbereitung sein. Hierzu ist es notwendig zu wissen, wie ich diese Empfänglichkeit somatisch formen kann!

Bühnenangst – Brennglas des Lebens
Im Falle einer traumatischen Vorgeschichte kann es auf der Bühne um das nackte Überleben gehen.

2. Fallbeispiel
Eine freiberuflich tätige Bratscherin, war eigentlich davon überzeugt, eine Orchesterstelle „verdient“ zu haben, blieb aber regelmäßig im Probespiel weit unter ihren Möglichkeiten. Bei ihr zeigten sich die oben erwähnten typischen Bogenprobleme, deren Bearbeitung zunächst von großer Versagensangst und Wut auf sich selbst begleitet war.
Bevor sie bereit war, sich in den Sitzungen mit ihrem Instrument zu zeigen, legten wir zunächst Schicht um Schicht andere Muster frei, in denen sie sich und ihre Geschichte erkannte und verändern konnte:
Zunächst einmal das Muster von „Ich muss üben“: Das Leben würde dann beginnen, wenn sie eine Stelle bekommen hätte. Bis dahin unterdrückte sie ihre Bedürfnisse, indem sie ihre Wirbelsäule versteifte, die Oberarme an den Körper presste und die Bauchdecke festhielt. Als sie begann, dieses unwillkürliche Muster willentlich zu desorganisieren, tauchten die verdrängten Wünsche nach und nach auf und sie hörte erst einmal auf zu üben! Überrascht stellte sie fest, dass es meistens sehr gut lief, ohne sich vorzubereitet zu haben! Dies stärkte ihr Selbstvertrauen. Sie ging Shoppen, traf sich mit Freunden, machte eine Reise und gab den ihr verhassten Musikschuljob auf.
Die Lust am Bratschespielen kam zurück, aber das klassische Konzert und die einschlägigen Orchesterstellen als die unumgängliche Visitenkarte für eine feste Stelle waren nach wie vor „vermintes Gebiet“.
Wenn sie nur daran dachte, zog sie ihre Schultern hoch und nach vorne, drückte den Nacken nach hinten und zog ihr Brustbein ein. Ihr Atem stockte, ihr Blick erstarrte.
Als ich sie das erste Mal bat, dieses Muster einen kleinen Schritt zu intensivieren, wurde ihr bewusst: Sie kannte sich so! Dies war in den Jahren ihrer Kindheit ihre Reaktion auf den zu körperlicher Aggression und Jähzorn neigenden Vater. Nur jetzt still halten und „funktionieren“, um keine gewaltsame Eskalation zu provozieren! Dieses „Sich Tot stellen vor dem Tribunal“ wie sie es selber nannte, war zu ihrer Probespieldisposition geworden.
Mit einem solchen unwillkürlichen Muster willentlich zu arbeiten eröffnet die Chance, den Handlungsspielraum zu erweitern und den inneren Druck in der ehemals bedrohlichen Situation Schritt für Schritt zu regulieren. Wahrzunehmen, „wie ich es tue“, überwindet die Spaltung und führt zurück in den Selbstkontakt. Für meine Klientin war es zunächst bedrohlich, später erleichternd, das traumatische Muster ihrer belasteten Vergangenheit in ihrem Probespielproblem wiederzuentdecken und es freiwillig aufzugreifen. Die Differenzierung bzw. Veränderung der muskulären Intensität dieses Musters führte zu mehr Raum ließ u.a. die Erkenntnis in ihr reifen, wie wichtig ihr die Unabhängigkeit ihres freiberuflichen Lebens sei – und dass eine feste Stelle („immer funktionieren müssen“) u.U. gar nicht das Richtige für sie sein könnte!
Was auch immer sie in Zukunft damit tun wird: Hier wurde eine persönliche Antwort aus ihrer somatischen Realität heraus immanent, mit der sie sich selbst eine neue Qualität ihrer Selbstgewissheit schenkte.

>Somatic Experiencing< [6]
„Gewahrsein“ und „Verkörperung“ (Embodiment), so nennt Peter A. Levine, der Begründer des sog. >Somatic Experiencing< die beiden Werkzeuge in der Behandlung traumatisierter Menschen. Die behutsame Wahrnehmung körperlicher Empfindungen ist in einem solchen Prozess der erste Schritt. Die Konzentration auf physische und physiologische Empfindungen eröffnet Wege der Integration und Umwandlung bedrohlicher Emotionen. Dem präfrontalen Kortex kommt in diesem Prozess die wichtige Rolle des Beobachters zu, während der Klient die Empfindungen, die in den tieferen Hirnregionen (Limbisches System, Hypothalamus und Hirnstamm) entstehen, unmittelbar erlebt.
Ziel auch dieses Ansatzes ist die Entkoppelung von Trauma und Angst durch eine schrittweise Veränderung des Angstmusters durch selbstregulierende Interventionen.

Grenzen halten
In der kindlichen Entwicklung vollzieht sich mit dem „Nein“ die Grenze zwischen dem Ich und dem Du. Abgrenzung ist in diesem Sinne ein wichtiger Schritt in der Entwicklung zu einer persönlichen Identität. Diese Grenze manifestiert sich körperlich – analog zur Morphologie der Zelle - in einer anatomischen Struktur der Außenwand. Sie fungiert als Membran, die über Expansion und Kontraktion Erregungswellen erzeugt oder hemmt. Gleichzeitig kann mit Hilfe dieser Grenze das Heraus und Hinein gestaltet werden.
In der Formativen Übung werden durch willentliches Intensivieren und Desorganisieren der Außenwand verschiedene Pulsationsmuster kreiert, die durch wiederholtes Anhalten oder „Stoppen“ als somatisch-emotionale Realität verfügbar werden. Die hieraus wachsenden Substrukturen („Kontainer“) repräsentieren neue Möglichkeiten von Verhaltensmustern.

3. Fallbeispiel
Beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ 2010 in Lübeck hatte ich die Gelegenheit, 3 Tage lang mit den Teilnehmern in gemischten Gruppen ein „Bühnentraining“ durchzuführen. Es waren fast alle Instrumente einschließlich Gesang vertreten, die Teilnehmer waren zwischen 11 und 23 Jahren alt.
In allen 9 Gruppen war eine Übung der Favorit: Das „Nein-Sagen“. Plötzlich spannkräftige Gestalten, strahlende Gesichter, Stolz und Selbstvertrauen, manchmal zunächst verschämtes Lachen – der Raum war voller Energie und Lebendigkeit!
Die jungen Leute erfuhren im „Nein!“ diese Grenze als „gute Spannung, die Freude macht“, als „Schutz“, „Stärke“ und „Halt“. Unbewusst war das Formen ihrer Außenwand über das „Nein“ ein Akt ihrer Selbstbehauptung –Grundvoraussetzung für das Wachsen ihrer persönlichen Identität. Mit der Möglichkeit des „Nein“ war die Bühne weniger angsteinflößend.
Bei manchen war die Freude über die hieraus erwachsende Macht zu spüren. Vielen begabten Menschen aber verbietet sich wegen ihres hohen moralischen Anspruchs diese Freude an der Macht. Wird diese Freude an ihrem „Vermögen“ verdrängt, ist der Preis nicht selten die Ohnmacht auf der Bühne.
Es ist bisweilen verwunderlich, dass Bühnenangst häufig als Unfähigkeit, sich zu öffnen, gedeutet wird. Dagegen drückt sich in der Angst vieler Musiker auf der Bühne somatisch ihre Gefährdung aus, schutzlos zu sein und überwältigt werden zu können. Eigentlich wissen sie nicht, wie sie eine Grenze halten können! Die unwillkürliche Reaktion auf das Ungeschütztsein ist dann häufig z.B. eine reflexhafte Anspannung, das Hineinschießen in einen hohen Muskeltonus.
Wer auf die Bühne geht, um zu funktionieren oder sich den Druck der Perfektion zu eigen zu machen, geht in die Spaltung und übt Verrat an sich selbst. Dieser Selbstverrat kann zum somatischen Selbstverlust führen - eine der Hauptursachen für das Entstehen von Panik.

(IV) Fazit

Entscheidend ist, was wir tun
Unsere Empfindungen und Emotionen steuern unsere Gedanken, die wiederum das Ergebnis verkörperter Strukturen sind. Das, was sich beispielsweise über unsere Spiegelneurone durch die Körperhaltung eines Menschen als Ausdruck einer Gestimmtheit bzw. Funktion mitteilt, ist in Wahrheit die Funktion selbst! [7] Dies gilt nicht nur für den Beobachter, sondern auch für den Betreffenden selbst: Seine interozeptiven Sinnesorgane, Rezeptoren aus Muskeln, Gelenken sowie der inneren Organe, sorgen für die Resonanz seiner Empfindungen.

Musik ist bewegter Dialog
In diesem muskulären Akt der Verkörperung verschmilzt die individuelle Persönlichkeit und das emotionale Gedächtnis des Musikers mit seiner inneren Vorstellung von Musik. Im Konzert hat der Zuhörer Anteil an diesem kreativen Akt, der sich im Interpreten wie auch in ihm selbst immer wieder neu und einzigartig vollzieht.
Die „Unkontrollierbarkeit“ dieses Aktes ist ein Geschenk und möglicherweise der Grund dafür, warum Musik uns Menschen auf so besondere Weise berührt!

Befreit Musizieren als Frucht einer ganzheitlichen Selbstregulation
In diesem Sinne ist es insbesondere für Musiker not-wendig, sich in ihren somatischen Mustern, ihrem muskulären Tun erkennen und regulieren zu lernen. Das Bedrohlichste an der Bühnenangst ist die Erfahrung des Ausgeliefertseins an ein somatisches Drama, dessen Drehbuch sie nicht kennen und in das sie deshalb nicht eingreifen können. In diesem Bühnendrama ein Lebensthema wiederzuerkennen, gibt ihnen die Chance, als Menschen und Musiker zu wachsen und ihr künstlerisches Potenzial zum Blühen zu bringen.

Literatur
1.) Bauer J., (2005) Warum ich fühle was Du fühlst, Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Hamburg [7]
2.) Carter R., (2010) Das Gehirn, München
3.) Damasio A., (2011) Selbst ist der Mensch, Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München
4.) Grawe K., (2004) Neuropsychotherapie, Göttingen
5.) Hüther G., (2012) Biologie der Angst, Wie aus Stress Gefühle werden, Göttingen [1]
6.) Keleman S., (1994) Forme Dein Selbst, München [3]
7.) Keleman S., (1999) Verkörperte Gefühle, München
8.) Keleman S., (2005) Formen des Leids, Berlin
The USA Body psychotherapy journal Volume 6 No.1 2007, S. Keleman, A biological vision
9.) (2011) The USA Body psychotherapy journal Volume 10 No.2, S. Keleman, Slow attending: The Art of Forming Intimacy
10.) Jacoby H., (1995) Jenseits von musikalisch und unmusikalisch, Berlin [5]
11.) Kandel E. R., (2006) Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes, Frankfurt/Main
12.) Marlock G., H. Weiss, (2006) Handbuch der Körperpsychotherapie, Stuttgart
13.) Levine P. A., (2011) Sprache ohne Worte, Wie unser Körper Trauma verarbeitet, München [6]
14.) Ruegg J. C., (2011) Gehirn, Psyche und Körper, Stuttgart
15.) Roth G., (2001) Fühlen, Denken, Handeln, Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt/Main [4]
16.) Roth G., (2003) Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt/Main
17.) Spitzer M., Lernen, (2003) Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg
18.) Stockmann A., (2008) Wie üben? Das “WIE“ üben! Teil I: Lösungsorientiert Üben, Das Orchester 06/2008; Teil II: Erfolgreich Üben; Strategien zum Selbstmanagement, Das Orchester 07/08/2008
19.) Storch M., Hüther G. u.a.; (2006) Embodiment, Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, Bern
20.) Thompson R. F., (2010) Das Gehirn, Von der Nervenzelle zur Verhaltenssteuerung, Heidelberg
21.) Van de Klashorst G. O., (2002) The Disposition of the Musician, Amsterdam [2]
22.) Zimmermann G., (2007) The USA Body psychotherapy journal, The Neurobiology of Somatic Emotional Learning and Formative Psychology Volume 6 No.1