In den letzten Jahren wird viel über die Probleme von Musikern gesprochen und geschrieben. Plötzlich drängt ein Thema auf die Tagesordnung, das zuvor eher wie ein Tabu behandelt – also verschwiegen – wurde. Probleme zu haben schien ein Beweis für mangelnde Begabung zu sein.
Allerdings gab es schon immer Instrumentalpädagogen – zumeist gleichzeitig auch erfolgreich ausübende Musiker und Solisten – die aus ihrer eigenen Spielweise eine Methodik entwickelten; in dem Sinne, dass der Weg, der für sie selbst zum Ziel geführt hat, auch für alle anderen den Erfolg bringen muss. Solche "Schulen" geben nicht selten Anlass zu regelrechten Auseinandersetzungen und "Glaubenskriegen". In jedem Fall aber wird die "Schule", durch die man gegangen ist, zum Aushängeschild für die eigene musikalische Entwicklung.
Dass eine solch einseitige Prägung meist nicht ausreicht, zeigt der frequente Besuch von Meisterkursen und Fortbildungen aller Art, mit der Musikstudenten und auch "fertige" Musiker heute versuchen, ihre Ausbildung zu vervollständigen. Was suchen sie eigentlich?
Neben klangvollen Namen für den musikalischen Lebenslauf und vielleicht auch auf der Suche nach einem zusätzlichen Podium, auf dem sie sich mit anderen messen können, suchen sie sicherlich vor allem musikalische und technische Anregungen.
Ständig steigendes technisches Niveau und wachsender Konkurrenzkampf geben Anlass zu höchsten Erwartungen und Bemühungen.
Auf diesem Hintergrund wird die oft verzweifelte Suche nach dem "richtigen" Lehrer, dem Meister, der einem die letzte Wahrheit über sein Instrument und seine Bewältigung verrät, verständlich.
Wie kommt es, dass bei einem solchen Angebot so viele Musiker während ihrer Entwicklung nicht "fündig" werden? Dass sie nicht selten jahrelang, oft lebenslang, mit Problemen kämpfen, die ihnen das Spielen und damit auch das Leben schwer machen oder sogar ins "Aus" führen?
Heute ist es kein Geheimnis mehr, dass 70-80 % der Berufsmusiker ständig unter irgendwelchen berufsbedingten Beschwerden leiden. Wenn sie nachdenken, reicht die Erinnerung an schlechte Gefühle in Verbindung mit dem Instrument oft bis in die Kindheit, bis zu den ersten Begegnungen mit dem Instrument, zurück.
G.O. van de Klashorst, der Begründer der Dispokinesis, arbeitet seit mittlerweile über 40 Jahren mit Musikern an ihren Spielproblemen.
Von Hause aus Pianist, studierte er nach einem Unfall, der seine musikalische Karriere frühzeitig beendete, Physiotherapie und Kinesiologie. Die von seinem Vater in Anfängen erarbeitete "Dispositionslehre" entwickelte er weiter zu der heutigen "Dispokinesis", indem er den anfänglich erworbenen Erfahrungen eine wissenschaftliche Grundlage gab. Mittlerweile, nach jahrzehntelanger Arbeit in Wageningen (NL), betreibt er im fünften Jahr ein Beratungsbüro in Oberhausen. In einem zweijährigen Lehrgang bildet er außerdem Musiker aus, damit sie Kollegen bei der Bewältigung ihrer Probleme begleiten.
Das Wort "Dispokinesis" leitet sich ab aus dem lateinischen "disponere": "über etwas verfügen", und dem griechischen "kinesis": "Bewegung". Es geht um das freie Verfügen über Haltung und Bewegung. "Spielte ich ein Stück und es gelang ungehemmt nach meiner inneren Vorstellung, war ich disponiert." (G.O. van de Klashorst)
Das Kernstück der dispokinetischen Arbeit bilden die sog. Urgestalten, einfache Übungen, die zur Bewußtwerdung und Änderung von Bewegungs- und Haltungsmustern dienen. Sie bilden die Grundlage für die darauf folgende Arbeit am Instrument. Mit ihrer Hilfe kann der Mensch zu seiner eigenen, ursprünglich ungehemmten Bewegungs- und Ausdrucksfähigkeit zurückfinden.
Wo liegen die Ursachen für Fehlentwicklungen im musikalischen Werdegang?
Musiker sind Bewegungskünstler. An ihnen wird in besonderem Maße deutlich, was den Menschen zu dem gemacht hat, was er ist: kreativ und vernunftbegabt. Ein Wesen mit Sprache und Selbstausdruck. Dies alles hat zu tun mit seinem Stehen auf zwei Beinen, seiner Aufrichtung. Ein Vierfüßler kann kein Instrument spielen.
G.O. van de Klashorst erkannte die Bedeutung der "posturalen Reflexe" für die Aufrichtung des Menschen und damit für die Befreiung der Hände zum "Handeln". Diese Reflexe werden bei einem aktiven Kontakt mit dem Boden ausgelöst. Sie geben dem Körper die notwendige Spannkraft und Zielgerichtetheit. Die Erfahrung einer solchen Ausgangslage lässt spüren, wie leicht Bewegung sein kann. Das gilt insbesondere für das Spielen eines Instruments. Nehmen wir das Beispiel eines Organisten, der sich sogar ohne direkten Kontakt der Füße mit dem Boden auf der Orgelbank halten muss – und zwar ohne sich mit den Händen in den Tasten abzustützen! Seine Füße sind "Hände", seine Hände aber sollten nicht zu "Füßen" werden und ihre Geläufigkeit beeinträchtigen. Viele Probleme von Organisten in Unterarmen und Händen sowie im Nacken- und Schulterbereich kommen daher, dass ihre oberen Extremitäten beim Spielen Haltefunktion übernehmen müssen. Sie haben ihre posturalen Reflexe nicht genutzt.
Für Organisten extrem, gilt dieses selbstverständlich für alle Instrumentalisten. Eine bestehende Haltungs-"Indisposition" hat immer eine Beeinträchtigung der Feinmotorik zur Folge.
Wie entstehen solche Indispositionen?
Unser Körper spricht eine Sprache. Haltung ist Ver–halten und verrät eine innere Befindlichkeit. Wie der Charakter einer Bewegung von der Vorstellung geprägt ist, so hat auch eine Körperhaltung immer mit einem inneren Bild zu tun, u.U. unbewusst. Passt dieses Bild nicht oder nicht mehr zu den aktuellen Aufgaben und Zielen eines Menschen, kommt es unweigerlich zu Spannungen und Konflikten.
Die Bewußtwerdung der eigenen Gestalt, verbunden mit der Chance, eine angemessene Haltung zu finden, die es ihm ermöglicht, sich frei und ungehemmt auszudrücken, ist für den Musiker von größter Bedeutung. Ist sein allgemeiner Haltungsausdruck z.B. "konzentrisch", d.h. nach innen gerichtet und von einem relativ hohen Muskeltonus begleitet, wird sich dieses Muster meistens auch in seinem Instrumentalspiel wiederfinden. Ist einem Lehrer dieser Zusammenhang nicht bewusst, wird es schwer sein, einem solchen Schüler eine andere Vorstellung von einer Bewegung zu geben. Wir sprechen von einem "Stereotyp".
Die Dispokinesis geht davon aus, dass jeder Mensch ursprünglich ein inneres Gespür für "richtige", d.h. angemessene Haltungen und Bewegungen hat. Dieses liegt gewissermaßen als Urbild in seinem Kleinhirn und ist auch abrufbar – wenn danach gefragt wird!
S. Eberhardt, der Leipziger Musikwissenschaftler, beschäftigt sich in seinem Buch "Hemmung und Herrschaft auf dem Griffbrett" mit der Frage nach der Disposition des Musikers. In–dispositionen bedeuten für ihn den Verlust der eigenen Ursprünglichkeit. Er war Überzeugt, dass sie wieder zu finden sei – und zwar da, wo die Gefühlsseite des Menschen angesprochen wird.
Es gilt, seine eigene Form durch lebendige Bilder wieder zu "entlocken".
Worte haben "Ladungen" (G.O. van de Klashorst). Ob ich beim Bogen von "Greifen" oder "Anfassen" spreche, löst ganz unterschiedliche Vorstellungen und damit körperliche Reaktionen aus. Letztere z.B. wird ein zarteres, aufmerksameres und weniger gespanntes Gefühl in der Bogenhand hervorrufen.
Lehrer neigen mitunter dazu, aus der Beobachtung dessen, was sie selber tun, Verlaufsbeschreibungen einer Bewegung für den Schüler als Auftrag zu formulieren. Das Bemühen, diesen Auftrag möglichst präzise auszuführen oder den Lehrer nachzuahmen, führt oft zum Krampf.
Demgegenüber geben z.B. Bilder Raum für persönliche Assoziationen und lösen, weil sie Gefühle ansprechen, viel leichter harmonische und stimmige Bewegungen aus. Das hat zu tun mit der unterschiedlichen Arbeitsweise der linken (digitalen) und rechten (analogen) Gehirnhälfte. Musiker sind "rechts". Das technische "know how" sollte immer im 2. Schritt folgen. So kann eine gesunde Integration gelingen. Daraus entsteht immer ein gutes Gefühl, die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein.
Ohne dieses Gefühl aber ist es eigentlich unmöglich, auf der Bühne zu stehen. Um "be–stehen" zu können, brauche ich Boden unter den Füßen und Vertrauen in mich und meine Bewegungen. Dieses Selbst–bewußtsein – zu wissen, was ich tue – bringt Unabhängigkeit, schließlich auch von einem Lehrer. Sollte dies nicht das Ziel eines guten Unterrichts sein?!
Die Dispokinesis ist keine "Methode". Indem sie vom Musiker in seiner anatomischen, physiologischen und psychischen Ganzheit ausgeht, arbeitet sie schließlich ganz konkret, "handfest" und fachmännisch am Instrument.
Dies ist es, was sie vielleicht am meisten von anderen Körperarbeiten unterscheidet. Fragen nach der sensomotorischen Reife, etwa im Hinblick auf die Links-Rechts-Dominanz, finden besondere Beachtung.
"Dispokineter" sind, ich erwähnte es schon, Musiker, die auf der Grundlage ihrer musikalischen Qualifikation arbeiten.
Ich selbst begleite seit mehreren Jahren Musiker in der Dispokinesis.
Abgesehen von denen, die mit einem akuten oder auch "chronischen" Problem kommen, gibt es viele, die einfach spüren, dass ihre Entwicklung noch nicht zu Ende ist und die ihre Ausdrucksmöglichkeiten erweitern möchten.
Oder sie wollen sich bewusst machen, was sie eigentlich tun, "wenn es gelingt".
Professionalität bedeutet eigentlich nichts anderes.
Abgesehen von dieser eigentlichen Praxis der dispokinetischen Arbeit halte ich sie darüberhinaus für ein Modell, und zwar sowohl in künstlerischer als auch in pädagogischer Hinsicht. Bei der Interpretation eines Stückes bemühe ich mich, das herauszuarbeiten, was aus dem Stück selber spricht. Wenn es mir gelingt, die Musik so, wie sie in mir klingt, für andere zum Klingen zu bringen, wird es sowohl für mich als auch für das Publikum ein befriedigendes oder gar beglückendes Erlebnis sein.
Im pädagogischen Sinne plädiert die Dispokinesis nicht für eine "Schule" – sie ist auch keine Lehre. In ihrem Sinne führt der Weg zum Instrument und zur Musik nicht am Schüler vorbei. Gerade in der Be–Achtung seiner eigenen Kreativität und Bewegungsbegabung liegt der Schlüssel zur Reifung seiner ureigenen Ausdrucksmöglichkeiten und damit zur vollen Entfaltung seiner Begabung.
© Das Orchester 11/96; Angelika Stockmann
Literaturauswahl
G.O. van de Klashorst: Inleiding tot de dispokinésiotherapie en paedie. Wageningen 1977.
ders.: Einführung in die Dispokinesis.
In: J. Fellsches (Hg.): Körperbewußtsein. Essen 1991.
L. Lesle: "Mit 40 ruiniert".
In: Das Orchester 4/1993, S. 386f.
A. Stockmann: Dispokinesis.
In: Musikmachen spannend, aber nicht verspannt. Hg. von der Landesarbeitsgemeinschaft Musik. Remscheid 1994.
S. Eberhardt: Hemmung und Herrschaft auf dem Griffbrett. Berlin 1931
(Max Hesse Verlag)