Inhaltsverzeichnis:

  1. Einleitung
  2. Schlüsselwörter
  3. Anamnese
  4. Die Verkörperung von Intensität
  5. Retraining
  6. Basisarbeit
  7. Neuorganisation grundsätzlicher Bewegungskoordinaten
  8. Ergonomie
  9. Intensivieren und desorganisieren
  10. Entwicklung eines Gegenentwurfs zum dystonischen Muster
  11. Entlocken
  12. Beispiel
  13. Bewegung ist Ausdruck
  14. Lösungsorientiert und ganzheitlich Üben
  15. Neuorientierung
  16. Prognosen
  17. Wenn Kunst von „künstlich“ kommt
  18. Konsequenzen für die Musikerausbildung
  19. Literaturhinweise

Die Vertreibung aus dem Paradies

Die Fokale Dystonie in der Musikerpraxis: Retraining nach den Prinzipien der Dispokinesis

Der vorliegende Aufsatz ist ein Erfahrungsbericht über die Arbeit mit an Fokaler Dystonie erkrankten Musikern in der Dispokinesispraxis.

Die Symptomatik der Dystonie stellt ein komplexes muskulär-kortikales Muster dar, bei dem die "Verkörperung von Intensität" in Bezug auf den musikalischen Ausdruck im Selbstbild des Musikers eine bedeutende Rolle spielt. Entsprechend komplex gestalten sich die Retrainingprozesse, an deren Ende eine unfassende Selbstkompetenz des Musikers steht.

Der dispokinetische Ansatz umfasst drei Schichten:

  1. Zunächst geht es um die Verbesserung der allgemeinen körperlichen Disposition sowie um die Vertiefung des sensomotorischen Feedbacks.
  2. Die Neuorganisation grundsätzlicher Bewegungskoordinaten führt zum Prinzip "Organisieren statt Kontrollieren" und zu einer neuen Qualität von Bewegungsvorstellungen.
  3. Dies stellt die Voraussetzungen dar, um die stereotypen Muster am Instrument durch "ursprüngliche" Ausdrucksbewegungen ersetzen zu können. Das Ziel ist eine gelungene Integration von Funktionalität und persönlicher Ausdrucksfreiheit.

Das Krankheitsbild der Dystonie stellt in diesem Sinne auch eine Herausforderung an die Musikerausbildung dar: Eine umfassende und kompetente Anleitung zum "Selbstmanagement" ist die beste Prävention.

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Schlüsselwörter

Fokale Dystonie, Retraining, Dispokinesis, Musikerausbildung, Prävention

>Üblicherweise bleiben unsere Probleme bestehen, weil wir nicht wissen, wie wir sie organisiert haben, (to organize), und wie wir diese Organisation wieder auflösen können, (to disorganize). (...) Wir haben die Wahl, uns entweder weiterhin mit den alten Mustern zu identifizieren oder uns neu zu "organisieren".< [1]

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Anamnese

Statistisch gesehen erkrankt nach heutigem Kenntnisstand einer von 500 Musikern zwischen dem 20ten und 45ten Lebensjahr an einer Fokalen Dystonie. Bestimmte Instrumentengruppen scheinen besonders betroffen: Gitarristen, Pianisten, Geiger, Querflötisten, Posaunisten erkranken häufiger als andere.

E. Altenmüller ging vor vielen Jahren auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Musikermedizin in Mainz in seinem Vortrag der Frage nach: >Gibt es eine "dystonische Persönlichkeit"?<. Er stellte einige signifikante Gemeinsamkeiten in der allgemeinen Konstitution betroffener Musiker fest: Dazu gehören eine hohe Ambitioniertheit, Leistungsorientierung und Perfektionismus ebenso wie die Neigung zu Angststörungen und negativen Selbstkonzepten. Auch genetische Faktoren scheinen das Zustandekommen dieses stereotypen Bewegungsmusters begünstigen zu können. Schließlich scheint nicht selten eine biographische Krise ein Auslöser gewesen zu sein.

Die konkrete Symptomatik einer Dystonie lässt allerdings keinen Zweifel darüber zu, dass wir es mit einem muskulär-kortikalen Muster zu tun haben, das sich nach und nach dem Einfluss des betroffenen Musikers entzieht. Geht man der Entstehungsgeschichte dieses in seinem Erscheinungsbild unwillkürlichen Bewegungsmuster nach, wird deutlich, dass es sich um eine Stagnation innerhalb eines komplexen Lernprozesses handelt. Diese "Sackgasse" beschreibt ein Dilemma: Der Versuch, die absolute Kontrolle zu erlangen, mündet in einem mehr oder weniger absoluten Kontrollverlust. Viele gingen jahrelang buchstäblich über ihr Gefühl hinweg, ignorierten Signale von Ermüdung oder Unwohlsein und "fühlen" nun nicht mehr gut. Der Muskel-Hirn-Dialog ist gestört.

In der Beantwortung der Frage, wie es zu einer Dystonie kommen kann, gibt es keine zwingende Kausalität. Im Laufe der Arbeit mit dem dystonischen Bewegungsmuster entsteht jedoch nach und nach ein vielschichtiges Bild, das alle instrumentaltechnischen, sensomotorischen, mentalen und psychischen Facetten einschließt.

Mosaiksteine im Hintergrund

Mosaiksteine im Vordergrund

Trotz einer teilweise beachtlichen Virtuosität verfügen viele Musiker über eine ungenügend entwickelte Sensomotorik, die sich beispielsweise in Schreibkrampf, einer nicht eindeutigen Links-Rechtsentwicklung bzw. umgepolten Händigkeit oder in dem grobmotorischen Einsatz des sog. Pinzettgriff innerhalb ihrer Spieltechnik äußert. In letzterem Fall werden Daumen und Zeigefinger opponierend in einer unbewussten Halteaktivität eingesetzt. Dies wirkt sich hemmend auf die Bewegungsfreiheit aller anderen Finger aus. Meiner Beobachtung nach spielt ein teilweise verstecktes Daumenproblem bei fast allen Handdystonien eine nicht unmaßgebliche Rolle.

Was die musikalische Entwicklung eines Musikers betrifft, sind Informationen über Lehrerwechsel und damit verbundene "Technikumstellungen" ebenso aufschlussreich wie bestimmte "Steckenpferde" und "Lieblingsideen" bezüglich der Spieltechnik. Von solchen Ideen geht oft eine große Faszination aus. Ebenso verhält es sich mit stereotypen Einspielprogrammen wie kraftorientierte Einblasübungen, an die Musiker "glauben", ohne diese auf ihre tatsächliche Wirksamkeit hin zu überprüfen. Leider sind es gerade diese stereotypen Programme, die, über Jahre hinweg ohne Aufmerksamkeit absolviert, mehr Schaden als Nutzen anrichten können.

Von den konkreten instrumentalmotorischen Bewegungsmustern und den ihnen zugrundeliegenden Vorstellungen sowie von der Bedeutung ergonomischer Hilfsmittel wird im Zusammenhang des Retrainings noch ausführlicher die Rede sein.

Reaktionen:

Ebenfalls zu berücksichtigen bei der Analyse eines dystonischen Musters sind auch die ersten unwillkürlichen Reaktionen auf den Kontrollverlust bzw. die Diagnose. Möglicherweise muss der erste "Schreckreflex" und die sich daraus ergebenden muskuläre Verhaltensmuster erst einmal abgebaut werden, ehe eine konstruktive Arbeit an der Dystonie beginnen kann. Die Erfahrung lehrt, dass Panik oder Zeitdruck einem solchen Prozess entgegen stehen, Gelassenheit und Neugierde aber wahre Türöffner sind. In diesem Zusammenhang ist auch die Unterscheidung zwischen einer möglichen konstitutionellen oder einer situationsbedingten Depression des Betroffenen in der Anamnese von großer Bedeutung. Im letzteren Fall kann dieser vorübergehende "Rückzug" als Antwort auf die aktuelle Krise durchaus der Heilung dienen, indem der Lebenspuls zur Ruhe kommt. Liegt dagegen eine prinzipielle depressive Disposition vor, ist sie als ein konstitutionelles Element der Dystonie zu betrachten und auch zu behandeln.

Besonders ältere Musiker werten das erste Auftreten dystonischer Symptome als Zeichen von altersbedingtem Nachlassen ihrer Fertigkeiten und erhöhen ihren Einsatz, um ihr "Niveau halten" zu können. Damit setzen sie einen Teufelskreis in Gang, mit dem sie die Belastung durch das Fehlbewegungsmuster noch erhöhen und das Stereotyp ungewollt vertiefen.

Das bisherige Übe- und Arbeits- bzw. Konzertprogramm aufzugeben kommt für viele Betroffene einer Kapitulation gleich. Der daraus entstehende Freiraum aber bietet die Möglichkeit, mit Hilfe ungewohnter Erfahrungen neue Muster zu installieren. Auch in dieser Hinsicht kann eine Veränderung des Lebens-"Kontextes" den Prozess unterstützen, gewohnte Verhaltensmuster aufzugeben bzw. zu verändern.

Je länger eine Dystonie besteht, desto mehr Kompensationshaltungen – und Bewegungen haben sich über das eigentliche dystonische Muster gelegt. Diese sollten in der Analyse sorgfältig von den ursprünglich "dystonischen" Komponenten unterschieden und zunächst einmal "abgetragen" werden.

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Die Verkörperung von Intensität

All diesen Phänomenen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie sich verkörpern. Sie formen ein komplexes Ausdrucksmuster, das zur Identität des jeweiligen Musikers gehört: Seine "normale", weil vertraute Körperhaltung, einstudierte Bewegungsabläufe am Instrument, seine Muster, auf Herausforderungen zu reagieren und Gefühle auszu"drücken".... dies alles hat Auswirkungen auf die Art und Weise, wie ein Musiker sich kennt, wenn er Musik macht. Wie wird aus der inneren Bewegung "E-motion" ? Wie verkörpert sich Intensität?

Diese "Schicht" der fokalen Symptomatik ist am schwersten zu bearbeiten, weil sie tief im Selbstbild des Musikers verankert ist. Spätestens an diesem Punkt kommt seine gesamtkörperliche Konstitution ins Spiel: Wie Erregung geformt wird, die Muster, in Kontakt zu gehen, Gefühle zu zeigen, "Spannung" zu erzeugen. Meistens treffen wir ein "zu viel" an muskulärem Einsatz an. Wir erkennen grobmotorische Bewegungsinitiativen, überflüssige Mitbewegungen, aber insbesondere ein hohes Maß an innerem "Mitgehen" und den Drang, "alles zu geben".

Demgegenüber lässt z.B. die Vorstellung, nur aus den Fingerspitzen sein Instrument zu berühren und in dem Dialog zwischen Ohr und Tastsinn den Klang zu gestalten, viele Betroffene zunächst ungläubig zurück. An diesem Punkt sitzt auch die größte Angst: Werde ich eines Tages "meinen" Klang wiederfinden? So kann ich nicht spielen! Wie soll ich auf diese Weise Ausdruck geben, vor allem oberhalb von mezzoforte?!

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Retraining

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Basisarbeit

Die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Änderungsprozess liegen zunächst in der Verbesserung des allgemeinen sensomotorischen Feedbacks sowie in einer stabilen körperlichen Disposition. Die Dispokinesis arbeitet mit den sog. Urgestalten von Haltung und Bewegung, um auf der Basis einer spannkräftigen und zielgerichteten Haltung den Oberkörper von kompensierenden Haltespannungen zu befreien. Indispositionen werden dabei von ihrem Ausdruck her gewertet. Dies ermöglicht einen unmittelbaren Zugang zu den bewussten und unbewussten "Selbstbildern" des Musikers, die sich in Haltung und Bewegung verkörpern. Schließlich hat diese Arbeit auch als körperorientierte Unterstützung der Psyche und des Selbstausdrucks für die Bewältigung der Krise eine Bedeutung.

Eine mühelose Aufrichtung ist die Basis für die Bewegungsfreiheit in Schultergürtel und Händen als auch im Bereich des mundmotorischen Apparates. Gleichzeitig garantiert sie den notwendigen intraabdominalen Druck im Bauchraum als kompressives Element für eine stabile Atemsäule.

"Ansatzdystonien" bei Bläsern beispielsweise sind meistens Ausdruck einer "Übertrainiertheit" der Lippen- und Gesichtsmuskulatur, oft verbunden mit einer ungenügend differenzierten Zungenaktivität. Unter Blechbläsern hat das gezielte Training der mundmotorischen Muskulatur nicht selten Methode. Auf diese Weise kann das Fehlen kompressiver Aktivität in der Haltung lange kompensiert werden, führt aber schließlich oft zu Überbelastungserscheinungen im Bereich der orofaszialen Muskulatur und begünstigt das Zustandekommen einer Dystonie. Dasselbe gilt beispielsweise auch für die Querflöte, deren Mundstück dem Spieler keinerlei Widerstand entgegenbringt. Die Luftsäule muss also auch hier mit Hilfe einer aktiven und spannkräftigen Haltung "vorgeformt" sein, was die Ansatzmuskulatur von unnötiger kompressiver Aktivität entlastet. So ist sie "frei" für eine differenzierte Klanggestaltung.

Für die feinmotorische Arbeit am dystonischen Muster ist es unerlässlich, den ganzkörperlichen "Kontext" als Basis zu disponieren. Dasselbe gilt für entsprechende Probleme der Hand bzw. Finger. Die "Urgestalten von Haltung und Bewegung" enthalten ebenfalls Elemente, in denen Vorstellungen für einen feinmotorischen und empfindungs- bzw. ausdrucksorientierten Gebrauch der Hände entwickelt werden. Qualitäten wie Öffnen und Raumerfahrung, die Unterscheidung verschiedener Bewegungsinitiativen und das Ersetzen von Krafteinsatz durch eine "leise" Bereitschaftsaktivität ebnen den Weg zu einer Neuorganisation grundsätzlicher Bewegungskoordinaten.

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Neuorganisation grundsätzlicher Bewegungskoordinaten

Hier geht es um das Bereitstellen von Möglichkeiten nicht durch "kontrollierte" sondern durch "organisierte" Bewegungsabstufungen.

Der schon weiter oben erwähnte "Pinzettgriff" bei Musikern geht nicht selten auf die frühe Schreibentwicklung zurück und rekrutiert seine Vorstellungen unbewusst aus dieser wichtigen Phase der feinmotorischen Entwicklung. In solchen Fällen liegt es nahe, dieses Muster unmittelbar "an der Wurzel" anzugehen und für eine Nachreifung des Schreibverhaltens zu sorgen. Die Dispokinesis bedient sich hier einer Schreibtherapie von Marius Lindemann (NL) [2] mit deren Hilfe eine ergonomische Sitzhaltung, der feinmotorische Gebrauch des Stiftes ohne grobmotorischen Einsatz z.B. des Pinzettgriffs anhand eines ausgearbeiteten Übungsprogramms erlernt werden. Dabei wird auch auf die speziellen Erfordernisse von Linkshändern eingegangen.

Die meisten an einer Dystonie erkrankten Musiker beklagen neben unwillkürlichen Kontraktionen mehr oder weniger ausgeprägte taktile Missempfindungen bzw. eine Schwäche und mangelnde Orientierung in den betroffenen feinmotorischen Bereichen. Diese haben ihre Ursache in den nachgewiesenen neuroplastischen Veränderungen auf der Hirnrinde. Um die kinästhetische und taktile Wahrnehmung der Fingerspitzen auszudifferenzieren, haben sich z.B. feinmotorische Übungen am Klavier bewährt. Als "Feedbackinstrument" eingesetzt, bereichert es den sensorischen Input zusätzlich durch eine akustische Rückmeldung und bereitet den Weg für den obengenannten Dialog zwischen Ohr und Tastsinn.

Orofasziale Übungen aus der Logopädie haben die Aufgabe, muskuläre Dysbalancen zwischen Zungen- Gesichts- und Lippenmuskulatur auszugleichen, den jeweiligen Tonus auszudifferenzieren und zu verfeinern. Des weiteren geht es um die Fähigkeit, Kiefer, Zunge und Lippen unabhängig von einander zu gebrauchen.

Kraftorientierter Einsatz eigentlich feinmotorischer Muskulatur, stereotyp überübte Bewegungsabläufe und die verschiedensten "Kontrollrituale" am Instrument haben u.U. den sensomotorischen Dialog zum Schweigen gebracht. Das Ziel dieser Arbeit ist es, aus der "On- oder Off- Situation" der Dystonie heraus wieder neu Varianten organisierter Bewegungsabstufungen zu installieren. Hieraus entstehen Möglichkeiten, die das Gehirn neu zu identifizieren lernt, um dann angemessene Reaktionen auszuwählen.

Statt einer stereotypen Muskelreaktion der Dystonie als Antwort auf den Kontakt von Mundstück, Taste, Saite oder Bogen soll wieder ein ursprünglicher "myotatischer Reflex" möglich werden, d.h. eine angemessene reflektorische Antwort auf den "real existierenden" Kontakt bzw. Widerstand. Diese Antwort ist "unwillkürlich", bedient sich aber aus einem möglichst differenzierten Angebot von Erfahrungen, die als Vorstellungen abgespeichert werden.

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Ergonomie

Es ist möglich, mit Hilfe elastischer oder fester Applikationen (Tapes/Schienen) vorübergehend unwillkürliche Bewegungen, Beugungen wie Streckungen, zu verhindern. Aber dieses Vorgehen wie auch die "Überlistung" des Gehirns mit Hilfe von Latexhandschuhen oder anderen Mitteln, den Kontakt zum Instrument zu verfremden, sind nur als zeitlich begrenzte Mittel geeignet, um einen neuen und "unverdorbenen" sensorischen Input zu kreieren. So wird zumindest vorübergehend ein veränderter motorischer Output ermöglicht, der als neues Vorbild auf den sensorischen Input Einfluss hat, mit dem das Gehirn das muskuläre Verhalten des Organismus  spiegelt.

Anders verhält es sich bei der Einführung mehr oder weniger gängiger ergonomischer Hilfsmittel, um grundsätzlich eine Stabilisation des Instrumentes ohne zusätzliche "Haltearbeit" zu gewährleisten. Musiker tun sich oft schwer damit, solche "Krücken" zu gebrauchen. Andererseits verhelfen sie den Betreffenden insbesondere in der Zeit des Änderungsprozesses zu einer veränderten "Ausgangslage", die den erneuten Zugang zum Instrument enorm erleichtert.

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Intensivieren und desorganisieren

Ein weiterer Ansatz, mit dessen Hilfe der neuromuskuläre Dialog angeregt und Einflussnahme erzielt werden kann, ist die sog. "Wie-Methode", der somatischen Arbeit der Formativen Psychologie entlehnt (s.o.).

Dabei werden beispielsweise unwillkürliche Kokontraktionen absichtlich muskulär intensiviert, wobei der Übende angeregt wird, das Muster genauer zu identifizieren. Dieser willentliche Akt tritt an die Stelle des unwillkürlichen Reflexes: "Ich ziehe den 3. Finger zusammen, indem ich das unterste Fingerglied nach hinten ziehe, den Fingernagel nach innen rolle...." Auf diese Weise wird der Zugang zur persönlichen Einflussnahme eröffnet. Von hier aus ist das Muster verfügbar und kann dann schrittweise desorganisiert werden, stets begleitet von der Identifikation dessen, was "ich tue". Durch Wiederholung entstehen nach und nach kortikale Repräsentationen von beispielsweise "mehr und weniger, noch weniger... Einrollen".

Dieses Übungsverfahren hat sich als äußerst wirksam erwiesen, erfordert aber viel Aufmerksamkeit und Geduld. Für manche Betroffene kommt es auch nicht in Frage, weil für sie das "freiwillige" und absichtliche Aufrufen des Musters eine zu große psychische Belastung darstellt.

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Entwicklung eines Gegenentwurfs zum dystonischen Muster

"Das alte Muster nie mehr!" G.O. van de Klashorst

Dies ist nur scheinbar ein Widerspruch zu dem soeben beschriebenen Verfahren.

Wie im ersten Diagramm dargestellt, kristallisieren sich im Laufe des Prozesses Vorstellungen heraus, die für das instrumentaltechnische Spiel eines Musikers  maßgeblich waren: Bestimmte Anweisungen zu Spielbewegungen, die nicht selten bis zum Exzess geübt wurden, Einspielprogramme, unter Druck durchgeführte Technikumstellungen (Bsp. Linke Hand Querflöte: Auch Ring- und Kleiner Finger dürfen nicht gestreckt, sondern sollen "rund" sein), in deren Verlauf der Musiker versuchte, ein Muster zu verhindern, aber auch unbewusste Abläufe, die z.B. mit unwillkürlichem Krafteinsatz zu tun haben können. Meistens spielt bei diesen Mustern das Bedürfnis nach Kontrolle eine "beherrschende" Rolle. Diese linkshemisphärische Dominanz in der Bewegungssteuerung führt zu einer "Digitalisierung" von Ausdruckbewegungen – und damit zu Künstlichkeit. Fest im Bewegungsrepertoire abgespeichert, blockieren sie nun den Zugriff auf andere Möglichkeiten. Es scheint also notwendig, an dieser Blockade vorbei neue Kodierungen zu kreieren, die nicht das "Etikett" dieses stereotypen Musters tragen.

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Entlocken

Um nicht einem alten Stereotyp ein neues hinzuzufügen, indem weiterhin "Kontrolle geübt" wird, bedient sich die Dispokinesis eines methodischen Ansatzes, den ihr Begründer G.O. van de Klashorst "Entlocken" nannte. Bildhafte, "rechtshemisphärische", d.h. ganzheitliche Vorstellungen ermöglichen den Zugriff auf ursprüngliche motorische Antworten aus früheren Lebensphasen oder unbelasteten Erlebnisbereichen des Musikers, die noch die "Unschuld" der Natürlichkeit tragen. Diejenigen Vorstellungen, die sich als geeignet erweisen, diesen "Reflex" auszulösen und eine positive Reaktion zu entlocken, werden durch Wiederholung zu den Bausteinen eines neuen Musters. In dieser Phase scheint es hilfreich, das alte Muster nicht unnötig durch Wiedereinsatz z.B. in fortgesetzter Konzerttätigkeit zu bestätigen, sondern das neue Muster durch regelmäßigen Input zu stabilisieren. Positive Gefühle, Bestätigung und natürlich vor allem Erfolgserlebnisse begünstigen die Bevorzugung der neu entstehenden Abläufe und unterstützen den Änderungsprozess.
Für die Auswahl der neuen Bewegungsvorstellungen ist neben der Frage: "Was tue ich?" die Frage nach dem "Wie tue ich es" entscheidend. Gefühle, innere Bilder, nicht zuletzt das schon oben erwähnte "musikalische Selbstbild" werden ebenfalls verkörpert und färben die Qualität der motorischen Abläufe.

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Ein Beispiel:

Eine junge Geigerin steht mit ihrem Ensemble am Beginn einer internationalen Karriere, als sich eine unwillkürliche Dorsalflexion im Handgelenk ihrer rechten Bogenhand mit Tremor bemerkbar macht – hauptsächlich in der oberen Bogenhälfte. Für alle Naturtalente ist Musikmachen das Medium elementaren Selbstausdrucks. In ihrem Fall ist Geigespielen auch noch ihre eigentliche emotionale Zuflucht. Sie erlebt einen Konflikt zwischen dem Anspruch, sich zu öffnen, und ihrem gleichzeitigen Bedürfnis nach Schutz. Dieses Dilemma verkörpert sie insbesondere beim Spielen in einer angespannten "Verdichtung". Auf die Bedeutung des biographischen Kontextes bin ich unter >Mosaiksteine im Hintergrund< schon eingegangen und möchte dies hier nicht weiter vertiefen.

Ihre Bogentechnik entstand einerseits durch Nachahmung der Spielweise ihres "Meisters" und andererseits in exzessiv wiederholten Strichübungen vor allem in der oberen Bogenhälfte, um auch dort maximale Klangentfaltung zu "trainieren".

Dieser Fall zeigt eindrücklich, wie die Faszination einer persönlichen Instrumentalphilosophie im Kontext einer abhängigen Unterrichtsbeziehung Musiker (Schüler wie Lehrer) dazu verführt, vorhandene (Bewegungs-) begabung zu ignorieren und durch Künstlichkeit zu ersetzen. Eine berührende Ausdrucksintensität kann wohl verhindert, nicht aber "gemacht" werden. Die Kraftorientierung eines "Trainings" ersetzt feinmotorische Ausdrucksbewegungen durch grobmotorischen Muskeleinsatz. Musiker bemerken oft zu spät, wie sich ihre Differenzierungsmöglichkeiten durch eine solche Arbeitsweise verringern.

Nachahmung hat in diesem Fall zusätzlich dazu geführt, das eigene Gefühl zu übergehen und einem äußeren Bild zu folgen, das sich eigentlich nicht in die individuellen Bewegungsmuster integrieren lässt. Im Laufe der Reifung eines Menschen vergrößert sich der kortikale Anteil bei allen Erfahrungs- und Lernprozessen – bei gleichzeitiger bereits stattgefundener Fixierung. Anders als bei kleinen Kindern, deren Nachahmungsverhalten sich sehr viel intuitiver gestaltet, führt diese oft schon bei älteren Kindern und Jugendlichen, und um so mehr bei Erwachsenen zu einer Art "analytischen Imitation", indem beispielweise Bewegungsabläufe in der Beobachtung zerlegt und "digitalisiert" wiedergegeben werden.

Weiterhin stellten sich in diesem Fall - neben einem "unbändigen" Ausdruckswillen - u.a. drei Vorstellungen als maßgeblich heraus:

  1. Sich mit dem Bogen in die Saite stützen 
  2. "Armgewicht" einsetzen. Dieses versuchte er unbewusst durch Hinunterziehen seines Schulterblattes zu realisieren.
  3. Der kleine Finger soll immer am Bogen bleiben

Zunächst fällt der Widerspruch der beiden ersten Spielanweisungen auf: "Stützen" als aktive – und "Gewicht" als passive Qualität.

"Stützen" ist eine posturale Funktion und löst als Bewegungsvorstellung einen grobmotorischen Haltereflex aus. Die grobmotorische Muskulatur übernimmt die Bewegungsinitiative und stellt die "kinetische Kette" feinmotorischer Bewegungsabläufe auf den Kopf.  Dies führte bei der Klientin zu einer starken Beugeaktivität im Ellenbogen, einem verspanntem Biceps, bei gleichzeitig extrem versteifter Beug-Streck-Streck Position der Fingergelenke, insbesondere in der oberen Bogenhälfte. Der Daumen opponiert. Um den "Bogengriff" samt kleinem Finger nicht zu verändern, wurde die Schulter extrem nach vorne gezogen. So geriet das Handgelenk in eine ausgeprägte Dorsalflexion, die schließlich zusammen mit einem Tremor zum Hauptsymptom des unwillkürlichen Bewegungsmusters wurde.

Von hier aus ist "Gewichtgeben" nicht mehr möglich. Der Bogen wird "gehalten" und muss nun aktiv in der Saite gedrückt werden. Durch das Hinunterziehen des Schulterblatts in der oberen Bogenhälfte wird zusätzlich das Schultergelenk fixiert. Weil die Finger nicht loslassen können, entsteht auf dem Weg zur Bogenspitze nun eine Dorsalflexion im Handgelenk mit reflektorischer Beugung aller Fingergelenke. Insbesondere an diesem Punkt ist das Handgelenk störanfällig: Geht die Aktivität von den Fingerspitzen aus, kommt das Handgelenk als "Brücke" zwischen Fein- und Grobmotorik in eine "stabile Flexibilität". In diesem Fall aber entsteht durch das starke Überstrecken bei gleichzeitigem hohen Druck eine "passive Insuffizienz", die in diesem Fall zu deutlichen Dysbalancen zwischen Beugern und Streckern im Unterarm im führte.

So beklagte sie neben dem Kontrollverlust beim Streichen eine permanente "Festigkeit" im rechten Unterarm, die sich auch mehr und mehr auch im Alltag störend bemerkbar machte. Im Laufe der Arbeit erwies sich eine flankierende physiotherapeutische Behandlung mit speziellen Übungen zur Stärkung der Beugemuskulatur im Unterarm als hilfreich.
Wie sieht nun der "Gegenentwurf" zu dem beschriebenen Verhaltensstereotyp aus? Zunächst geht es um das Bewusstmachen posturaler Aktivität im Unterkörper als Voraussetzung für die "Freiheit der Hände". Im nächsten Schritt muss die Unterscheidung zwischen "Stützen" im Gegensatz zu "Kontakt herstellen" sowie "Halten" im Gegensatz zu "Berühren/Anfassen" sensomotorisch erfahren und neu verankert werden. Bevor das an der Geige geschehen kann, bieten sich abseitige Erfahrungsgelegenheiten wie beispielsweise das Klavier als Feedbackinstrument an, um die Resensibilisierung der Fingerspitzen als Initiativpunkt feinmotorischer Ausdrucksbewegungen vorzunehmen (s.o.). Dabei kommt der Entwicklung eines feinmotorischen Daumens eine besondere Bedeutung zu. Der grobmotorische Einsatz des "Opponierens" kann durch Bewusstmachung einer "offenen Hand" und Stärkung der Abduktoren und Extensoren des Daumens überwunden werden.

Die beiden ersten oben beschriebenen stereotypen Vorstellungen führten zu einer künstlichen "Zerlegung" der Bewegungsinitiativen in der unteren bzw. oberen Bogenhälfte. Stattdessen führt eine klare Zielvorstellung der "Linie", in diesem Falle gewissermaßen "Von West nach Ost" automatisch zu einer fließenden übergangslosen Bewegung mit feinmotorischer Initiative.

Insbesondere begabte Kinder werden schon früh in der instrumentalen Entwicklung am Streichinstrument zu einer gleichbleibenden Klangintensität bis zur Bogenspitze herausgefordert und auf diese Weise zum "Drücken" verführt, ehe ihre Sensomotorik so weit entwickelt ist, dass andere Lösungen gefunden werden können. Dieses Muster wirkt wie "offene Ohren" auch für spätere Vorstellungsangebote, die in eine entsprechende Richtung gehen. Wenn das Kind parallel dazu, wie in dem vorliegenden Fall, auch noch eine entsprechend grobmotorische Schreibentwicklung durchmacht, ist schon früh eine ungünstige Grundlage für alle späteren feinmotorischen Bewegungsvorstellungen z.B. auch am Instrument, gelegt.

Die Elastizität von Bogen und Saite bietet eine Fülle von "Reizen", für die die Aufmerksamkeit des Nervensystems neu geweckt werden kann. Der Übergang von der bloßen Kontakterfahrung eines ruhenden Bogens zu unterschiedlichen Bogengewichten ist im Fall einer Fokalen Dystonie besonders heikel und erfordert viel Geduld und Phantasie: An diesem Punkt kann die gewohnte Klangerwartung verbunden mit dem alten Muster der "Verkörperung von Intensität" wieder getriggert werden. Ausgehend von motorischen Akten – hier: unterschiedliche Bogengewichte – werden positive funktionale Vorstellungen installiert, die später als Möglichkeiten zur Realisierung von musikalischen Dynamiken zur Verfügung stehen.

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Bewegung ist Ausdruck

In ihrem starken Ausdruckbedürfnis und Leistungsdenken agieren Musiker nicht selten nach dem Grundsatz: "Egal wie! Hauptsache, es klingt!" Oder wie ein Blechbläser mit einer "Ansatzdystonie" es einmal ausdrückte: "Sie fragen mich, wie es sich anfühlt. Ich dachte immer, Trompetespielen soll funktionieren!"

In diesem Sinn ist eine gut entwickelte Sensomotorik ein wichtiges Startkapital für ein langes gesundes Musikerleben. Hinzu kommen muss eine behutsame Begleitung im Sinne eines Mentors, der Musiker nicht durch künstliche Anweisungen dazu verführt, ihre angeborene Ausdrucksfreude zu hemmen und durch etwas Synthetisches zu ersetzen. Ein "piano" ist nicht "Vorsicht" und "den Bogen aus der Saite heben", sondern "zart" oder "wie mit einem Grashalm". Dynamik oberhalb von mezzoforte kann sein wie "ungebremst auf etwas losgehen", wie "einen Ball an die Wand knallen", wie "aus vollem Herzen singen". Wie fühlt es sich an, wenn es "überirdisch" oder "archaisch", "draufgängerisch" oder "aggressiv" ist? Unterdrückte Aggressionen können sich in gebremsten und verkrampften Versuchen, "laut" zu sein, bemerkbar machen. Das Bewegungsmuster wird "adzentrisch", richtet sich nach innen, statt "exzentrisch" auf sein Ziel im Raum gerichtet zu sein und in dieser Bewegungsrichtung auch seine "Lösung" zu finden.

In dieser Phase der Arbeit mit einem Stereotyp geht es darum, ursprüngliche Ausdrucksqualitäten in ihrer natürlichen Verkörperung Schritt für Schritt wieder verfügbar zu machen.

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Lösungsorientiert und ganzheitlich Üben

Musiker neigen bekanntlich dazu, das zu üben, was sie nicht können. Spätestens ein Reorganisationsprozess erfordert eine Übepraxis, in der der Musiker übt, was er kann – um daraus die notwendigen Lösungen zu rekrutieren für das, was er in diesem Moment noch nicht kann.

Das sich nach und nach entwickelnde individuelle Übungsprogramm erfordert Aufmerksamkeit. Erlischt die Konzentration, erscheint das alte Muster. Innerhalb eines Retrainings treten folgende Aspekte in den Vordergrund, die üblicherweise von Musikern mehr oder weniger beim Üben ignoriert werden:

In welcher körperlichen Verfassung bin ich wach und aufmerksam?

Wie merke ich, dass ich müde bin?

Wie oft kann ich eine Bewegung wiederholen, ohne dass sich eine Störung bemerkbar macht (oder ich meine Aufmerksamkeit verliere)?

Wie ist es, aufzuhören, bevor es wieder "schlechter" wird?

In der gängigen Übepraxis von Musikern wird nicht selten auch schon Gekonntes so oft wiederholt, bis ein Fehler auftaucht, womit der Beweis erbracht ist, dass sie es nicht können und weiterüben müssen. Diese negativen Übemethoden vertiefen den Selbstzweifel, führen zu Überbelastungsproblemen und zum "Durchdrehen" eines überreizten Nervensystems.

Wie ist es, etwas neu Erworbenes zunächst einmal zu verinnerlichen, um auf der Basis dieser Verlässlichkeit den nächsten Schritt zu tun?

Musiker mit einer Fokalen Dystonie beklagen, dass sie sich den "richtigen" Ablauf bzw. wie es sich einmal angefühlt hat, nicht mehr vorstellen können. Verinnerlichung ist ein Prozess des Einkörperns, bis durch aufmerksames Wiederholen stabile Repräsentationen entstanden sind. Im Laufe der Arbeit werden klare "Vor-stellungen" verfügbar, die dem Musiker seine Spielbereitschaft signalisieren.

Sowohl für die möglichst präzise Identifikation des dystonischen Musters, als auch für die Gestaltung des "Gegenentwurfs" ist es wichtig, die Sprache des Klienten aufzugreifen, mit der er die Symptomatik, Körpergefühle usw. im Laufe der Arbeit beschreibt. Seine Worte, Bilder und auch Erinnerungen an "vergessene" Erfahrungen sind ein Schlüssel zum Verständnis des Entwicklungsprozesses, der in die Dystonie mündete. So sehr sich typische Symptome in vielen Fällen ähneln, sind sie doch Ausdruck eines hochspezifischen und ganz persönlichen Musters, das es zu erkennen gilt.

Auffällig ist, wie bisher "Unerlaubtes", sowie die Grenze der Peinlichkeit überscheitendes Verhalten (z.B. beim Vibrato) als "Gegenentwurf" Türen öffnet und erstaunliche Resultate hervorbringt. Mit dem Instrument "spielen", Varianten probieren, die Zensur aufgeben – all das hat sich als Mittel zur Befreiung aus der Fixierung bewährt und wirft ein Licht auf die verborgene Thematik des Problems.

Eine solcher Umgang mit dem Instrument und mit sich selbst führt zu einer professionellen Form des Selbstmanagements, die gleichzeitig dem Menschen im Musiker Rechnung trägt.

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Neuorientierung

Eine Dystonie offenbart einen Entwicklungsprozess, dessen "Logik" oder "Geschichte" verstanden werden muss, um den Weg heraus aus der Sackgasse zu finden.
In diesem Prozess der Re- Organisation kann der Musiker nicht einfach an der alten "Unschuld" anknüpfen. Das Vertrauen in das eigene Gefühl ist spätestens durch das Ausgeliefertsein an ein zunächst nicht beeinflussbares Muster zutiefst erschüttert. Es muss eine neue Verbindung hergestellt zwischen Klangvorstellung und Bewegungsgefühl. "Selbstverständlichkeiten" müssen neu gefunden und verfügbar werden. Der unwillkürliche Reflex funktioniert nicht mehr und muss zunächst durch ein "Gewusst wie" ersetzt werden. Nach und nach werden die "neuen" Muster eingekörpert und werden Teil eines neuen "Selbstbildes", das verlässliche Verhaltensvorstellungen am Instrument integriert.
Der Weg führt durch das "unendliche Bewusstsein", wie Heinrich von Kleist es in seiner Novelle: >Über das Marionettentheater< [3] beschreibt: >So findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein. (...) Mithin, (...) müssten wir wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, (...)<

In diesem Sinne gestaltet sich in der Arbeit am dystonischen Muster nicht selten ein umfassender Reifungsprozess. Dazu gehört auch die Verarbeitung der Tatsache, dass Lehrer und Therapeuten auch nur Menschen sind und ich als Schüler bzw. Klient keine Wahl habe, als mich auf mein eigenes Gefühl zu verlassen.

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Prognosen

Prognosen bezüglich Dauer und Erfolg des Prozesses sind im Vorhinein nicht möglich. Parameter wie bisheriger Zeitraum und Schwere der Symptomatik, Alter, Lebenssituation und Motivation des Betreffenden, der Einfluss von unter der Symptomatik entwickelten Kompensationen spielen eine Rolle. Auch hier gilt: Jede Entwicklung verläuft einmalig und individuell.

Die psychische Disposition des Übenden ist nicht zu unterschätzen. Erfolgsdruck steht dem Gelingen in diesem Prozess eindeutig entgegen. Demgegenüber können alle Maßnahmen, die dem körperlichen, seelischen und nicht zuletzt auch sozialen Wohlbefinden dienen und für Gelassenheit sorgen, wesentlich zu einem positiven Verlauf beitragen. Neugierde und Interesse haben wie bei allem Lernen entscheidenden Einfluss auf den Änderungsprozess.
Eine selbstverantwortliche Haltung, in der der Musiker die Frage: Wie tue ich es? nach und nach neu für sich beantwortet, ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen eines solchen Prozesses.

Nicht jeder ist bereit, sich auf diese Weise einzulassen.

Auch der Zeitfaktor spielt eine nicht unmaßgebliche Rolle. Zwei bis vier Jahre sind Durchschnittswerte für ein Retraining, an dessen Ende nicht unbedingt eine vollständige Heilung stehen wird. Je früher mit der Behandlung begonnen wird, um so größer sind erfahrungsgemäß die Chancen.

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Wenn Kunst von "künstlich" kommt

Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass die Fokale Dystonie von Musikern den Endpunkt eines Kontinuums markiert, auf dem sich viele Musiker mit mehr oder weniger schweren Bewegungsstereotypen befinden. Der Unterschied ist graduell. Der Reorganisationsprozess von Musikern mit Fokaler Dystonie erscheint nicht selten wie eine "Wiedergutmachung" einer vergangenen Entwicklung, in der ein Musiker seine Unschuld verloren hatte.

Schon Heinrich Jacoby setzte sich vor fast einhundert Jahren mit dem Phänomen der "Künstlichkeit" in der Kunst auseinander. Er setzte sich leidenschaftlich für eine Instrumentalpädagogik ein, in der das Musikmachen als natürliche Selbstäußerung des Menschen verstanden und folglich wie die Muttersprache vermittelt werden sollte. Demgegenüber prangerte er die "Abrichtung" von als "begabt" geltenden Kindern an, um sie für das spätere Funktionieren im Kunstbetrieb zu domestizieren. Seine Schriften haben bis heute leider nicht an Aktualität verloren. [4]

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Konsequenzen für die Musikerausbildung

In diesem Sinne ist die Fokale Dystonie auch ein Stachel im Fleisch unserer Musikerausbildung. Aber nicht nur das: Die sich immer schneller drehende Leistungsschraube, eine Gesellschaft, die nur dem Erfolgreichen eine Existenzberechtigung zugesteht, stellt insbesondere für Künstler ein oftmals kaum lösbares Dilemma dar: Die moderne Neurobiologie führt zu Tage, wie Betonung von Leistungsanspruch und Perfektion eine "linkshemisphärische" Orientierung auf den Plan ruft, die sich hemmend auf die Emotionalität und Bewegungsfreiheit eines Menschen auswirkt. Musiker brauchen eine kompetente und behutsame Begleitung, um angesichts dieser Realität den Kontakt zu "ihrer ersten Liebe" nicht zu verlieren. Letztlich sind es die Verkörperungen dieses Dilemmas, die in vielen Fällen die tiefe Ursache für die Probleme von Musikern darstellen. Sie müssen ihre persönliche Antwort auf die Frage finden, wie dieses Dilemma, das in der Tat nicht auflösbar ist, gelebt werden kann.

In jüngster Zeit ist diesbezüglich eine erfreuliche Entwicklung zu verzeichnen: Immer mehr Musikhochschulen erkennen die Notwendigkeit von Präventionsangeboten im Rahmen der Musikerausbildung.

Ein weiterer Schritt sollte folgen, um die hier angebotenen Kompetenzen fruchtbar werden zu lassen: Es geht um eine entschiedene Aufwertung der Instrumentalpädagogik, die, so will es bisweilen scheinen, noch immer das Stiefkind der Musikerausbildung ist. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, dass die "schlechteren" Musiker prädestiniert sind für den Beruf des Musiklehrers, bzw. dass die "herausragenden" dafür entweder zu schade sind oder aber keiner Schulung bedürfen, um wirklich kompetent zu unterrichten.
Ich beobachte in meiner Arbeit an der Musikhochschule, wie bei den jungen Studenten das Interesse für das Unterrichten da geweckt werden kann, wo sie zunächst bezüglich ihrer eigenen Entwicklung Kompetenzen erwerben. Dazu gehören Übestrategien auf der Grundlage der Neurobiologie des Lernens, die Bedeutung verschiedener Unterrichtskonzepte innerhalb ihres eigenen Werdegangs, Körperbewusstsein, Strategien zum umfassenden Selbstmanagements auch auf der Bühne usw.. Dazu gehört ferner eine dialogische und "rechtshemisphärische" Unterrichtssprache, die die schon vorhandenen Vorstellungen und Muster eines Studenten erkennt und ernst nimmt - mit dem Ziel einer umfassenden Selbstkompetenz des Schülers.

Solche Reifungsprozesse erweisen sich als notwendige Voraussetzung für die Entwicklung auch künstlerisch überzeugender Persönlichkeiten, die zudem den Herausforderungen des Musikerberufs gewachsen sind.

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Literatur

  1. Stanley Keleman, Forme Dein Selbst, Kösel Verlag 1994
  2. Marius Lindemann, Handschrift Verbeteren, Stichting IVIO Lelystad 1989
  3. Heinrich von Kleist, Sämtliche Anekdoten, Reclam 2002
  4. Heinrich Jacoby, Jenseits von >Musikalisch< und >Unmusikalisch<, Christians Verlag 1984
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