Wie üben? Das "WIE" üben!

Teil II: Erfolgreich Üben; Strategien zum Selbstmanagement

Das Üben nimmt einen beträchtlichen Teil der Lebenszeit von uns Musikern in Anspruch. Es strukturiert unseren Tag, schenkt uns regelmäßig Stunden der Beschäftigung mit uns selbst und mit dem, was wir am liebsten tun. Um so enttäuschender ist es, wenn das Üben keinen Spaß macht, der Übeerfolg ausbleibt oder wir spätestens auf der Bühne die Erfahrung machen, dass das zuvor Erarbeitete nicht verlässlich abrufbar ist. In einem solchen Moment stellt sich die Frage nach dem "Wie" des Übens.

Teil I der vorherigen Ausgabe beschäftigte sich mit dem "lösungsorientierten Üben". Ausgehend von der musikalischen Klangvorstellung können verlässliche (Bewegungs-) Vorstellungen kreiert werden, die im entscheidenden Moment auf der Bühne abrufbar sind. Lösungsorientiertes Üben fokussiert im Gegensatz zum "ergebnisorientierten Üben" nicht den erhofften Erfolg, sondern ist im Kontakt mit dem körperlichen Prozess.
Dieses Üben mit der Frage nach dem "WIE" ist anspruchsvoll und erfordert Aufmerksamkeit. Dafür ist es effektiv, spart Zeit, orientiert sich an positiven Gefühlen und kann so Musikererkrankungen vorbeugen.

Dieser nun folgende Teil soll die Voraussetzungen aufzeigen, unter denen das lösungsorientierte Üben gelingen kann.

Üben als Entwicklungsprozess
Das tägliche Üben hält uns Musikern regelmäßig den Spiegel vor: Es offenbart nicht nur unsere momentane Gestimmtheit, sondern zeigt uns, wo wir in unserer Entwicklung als Mensch und Musiker gerade stehen. Diese Tatsache stellt eine immerwährende Herausforderung für uns dar. Ohne Selbst-Bewusstsein im ursprünglichen Sinne des Wortes kann diese Erfahrung frustrierend sein. Selbstbeobachtung dagegen und ein kompetenter Umgang mit seinen individuellen Mustern macht aus diesem Dilemma eine lebenslange Chance, als künstlerische Persönlichkeit zu wachsen. Wir Menschen sind unser Körper. Musiker sind selbst das Instrument, mit dem sie sich ausdrücken und in dem sie ihre Musik verkörpern. Das Gehirn hat Teil an diesem Verkörperungsprozess und ist ständig z.B. mit unserem Bewegungsapparat im Dialog. Welche Komponenten spielen in diesem Prozess eine Rolle? Musiker können sich dieses Wissen zu Nutze machen, um in der täglichen Arbeit mit sich und dem Instrument verlässlich zu lernen und ihre persönliche Entwicklung zu fördern.

Aufmerksamkeit
Wiederholung sorgt im Nervensystem für die Modifikation und Stabilisierung von Synapsenstärken. Solche Modifikationen finden nur an Synapsen statt, die aktiv sind. Je aktiver neuronales Gewebe in einem bestimmten Bereich der Gehirnrinde ist, desto eher findet in ihm Veränderung von Synapsenstärken und damit Lernen statt. Aufmerksamkeit ist der Trigger für stärkere Aktivierung derjenigen Areale, die für die Verarbeitung dessen zuständig sind, worauf ich meine Aufmerksamkeit richte.
Aufmerksamkeit ist die Voraussetzung, um lösungsorientiert Üben zu können. Sie ermöglicht es, sich Körper- und Bewegungsgefühle bewusst zu machen und z.B. das Angemessene und Leichte zu wählen, statt stereotyp zu wiederholen.
Wie ist die körperliche Organisation von Aufmerksamkeit? Es kann eine mühelose Aktionsbereitschaft sein, wie ein "Kochen auf kleiner Flamme".
Nicht zu lange Übeeinheiten und regelmäßige Pausen helfen, immer wieder mit dieser Qualität bei der Sache sein zu können.

Aha - Erlebnisse
Das Gehirn speichert in seinen neuronalen Repräsentationen, die durch Wiederholung mit genügender "Reizstärke" entstanden sind, was wir "gelernt" haben. Es leitet aus unseren Erfahrungen "Regeln" ab, mit denen es ständig das Geschehen um uns voraussagt. Insofern werden viele Vorgänge auch beim Üben gar nicht mehr im Gedächtnis festgehalten, weil wir sie implizit bereits parat haben.
Gelegentlich aber, wenn das Tun besser ist als erwartet, wird gelernt. Was neu ist und positive Konsequenzen hat, wird gespeichert. Dieser Vorgang hat mit einem Belohnungssystem in unserem Gehirn zu tun: Dopamin wirkt wie ein Türöffner. Es ist ein Belohnungshormon und führt zu Weiterverarbeitung, zum Lernen.
Aufmerksamkeit und Selbstbeobachtung machen es möglich, dass wir uns selbst mit solchen Aha-Erlebnissen beschenken! Solche Momente haben für unsere Weiterentwicklung eine enorme Bedeutung, zumal wir etwas gewonnen haben, das viel mehr wiegt als Erkenntnis: Wir haben es erfahren! Solche Erfahrungen motivieren und beflügeln uns. Sie sind ein Indikator, dass wir auf dem richtigen Weg sind und eröffnen eine neue Ebene der Kompetenz.
Wir sollten beim Üben eine positive Entdeckung "feiern", indem wir innehalten und uns das "Wie" und die Bedeutung dessen, was wir getan
haben, bewusst machen. Diese Rückmeldung stimuliert Lernen.
In diesem Sinne kommt dem Lehrer im Unterricht eine entscheidende Rolle für das Übeverhalten des Schülers zu: Negativ formulierte Kritik ruft schnell eine (motorische) Hemmung hervor. Positive Verstärkung des gewünschten Verhaltens dagegen begünstigt Lernprozesse. So wird die Unterrichtssituation zu einem Exempel für das Üben, denn Üben ist letztlich nichts anderes, als sich selbst zu unterrichten.

Vorstellungen
"Wenn ich doch gründlich geübt und alles hundertmal wiederholt habe - warum ist die Stelle dann im Konzert doch schief gegangen?"
Um diese Frage beantworten zu können, betrachten wir noch einmal genauer die Funktionsweise des Gehirns. Aus welchen Komponenten setzt sich die neuronale Repräsentation beispielsweise eines schwierigen Laufs zusammen?
Unser Gehirn "denkt" in Bildern, ganzheitlich. Das bedeutet, dass Bewegungserinnerungen, Gefühle, Empfindungen, Stimmungen usw. mit eingeschlossen sind. Weil für so differenzierte Vorgänge wie z.B. das Spielen eines Instrumentes viele plastische "Karten" miteinander verschaltet werden, handelt es sich um ein sehr assoziatives und komplexes Bild, in dem viel mehr Aspekte eine Rolle spielen als das, was wir über einen Bewegungsablauf oder unsere (gute) Absicht sagen könnten. Dabei spielen insbesondere unsere früheren elementaren Körper - und Bewegungserfahrungen eine entscheidende Rolle. Diese sind entstanden, lange bevor wir ein Instrument gelernt haben.
Wohin bin ich in meiner Haltung gerichtet? Weiche ich zurück? Wie wirkt sich diese Ausgangshaltung auf meinen Kontakt zum Instrument aus?
Bin ich fleißig und gewohnt, mich anzustrengen und mein Bestes zu geben? Wie beeinflusst diese Anstrengung meine Bewegungsabläufe und den Klang?
Die meisten kortikalen Areale erhalten ihren Input nicht von der Außenwelt, sondern von anderen kortikalen Arealen. Auf jede Faser, die in das Großhirn (Areal des Gehirns für Willkürbewegungen) hineingeht und sie wieder verlässt, kommen 10 Millionen interne Verbindungen! "D.h. neurobiologisch gesprochen sind wir vor allem mit uns selbst beschäftigt. Das Gehirn ist vor allem mit sich selbst im Dialog." (Manfred Spitzer, Lernen - Gehirnforschung und die Schule des Lebens)
Deshalb ist es so hilfreich, wenn wir uns beim Üben unsere Vorstellungen bewusst machen. Sie sind der "Stoff", aus dem unser Verhalten gemacht ist.

Emotionen
"Emotion" stammt von dem lateinischen "emovere", was soviel heißt wie bewegt werden - z.B. von Musik. Die Herleitung dieses Begriffs macht schon deutlich, dass Gefühle neben einem kognitiven, qualitativ-gefühlsmäßigen Aspekt auch eine Bewegungsqualität auslösen. Wie wir schon weiter oben festgestellt haben, werden unsere Spielbewegungen sowohl durch unseren Ausdruckswillen als auch durch unwillkürliche Effekte unseres Nervensystems (allgemeine Befindlichkeit) positiv oder negativ beeinflusst. Unser Gehirn braucht jedenfalls die emotionale Komponente, Neugier, Interesse, inneres Beteiligtsein, um zu lernen!
Üben trotz Lustlosigkeit oder Müdigkeit schadet, weil wir bei dem "sinnlosen" Wiederholen u.U. auch Dinge speichern, die wir eigentlich gar nicht speichern wollen.
Habe ich den Mut, mit dem Üben aufzuhören, wenn ich spüre, dass es eigentlich nichts mehr bringt? Oder muss ich mein Gewissen mit dem Erfüllen eines bestimmten Pensums beruhigen?
Woran merke ich eigentlich, dass ich müde werde? Beginnen meine Augen sich anzustrengen, werde ich unruhig oder schweife mit meinen Gedanken ab?
Musiker sollten sich selbst gut kennen, um auf Dauer zufriedenstellend und professionell üben zu können. In der Praxis erlebe ich, dass besonders die jungen Musiker und Musikstudenten Bestätigung und Ermutigung brauchen, ihren eigenen Übestil zu entwickeln - vor allem, wenn sie festgestellt haben, mit wie wenig sie eigentlich auskommen!

Angst
Das limbische System ist gewissermaßen das Tor zur Großhirnrinde, wo wir willkürlich lernen. Aufmerksamkeit, emotionales Beteiligtsein und Motivation öffnen den Zugang zum Speicher, Angst verschließt ihn. Hierfür sind die Mandelkerne verantwortlich, die dafür sorgen, dass wir unangenehme Erlebnisse schnell speichern, aber in Zukunft vermeiden.
Angst hemmt zudem kreative Prozesse und die Möglichkeiten zu Verknüpfung und Assoziation. Auf diese Weise verhindert es die Anwendung von Gelerntem auf viele Situationen und Beispiele. Genau das aber sollte ja durch Üben ermöglicht werden: Einmal Gekonntes auf andere Stücke und Situationen zu übertragen. Üben ist dazu da, dass wir "von Stück zu Stück" (Ullrich Voss) besser werden.
Musiker mit Bühnenangst erleben in der akuten Vorspielsituation die Wirkung von Angst: Sie nimmt uns "gefangen", macht "eng" und "unfrei". Angst beherrscht unser Denken durch Horrorszenarien oder Blackouts besonders dann, wenn es nichts anderes gibt, woran wir positiv denken. Einer meiner Lehrer sagte einmal: Ich habe auf der Bühne keine Zeit, um Angst zu haben. Ich bin ganz und gar mit "Beethoven" beschäftigt und mit dem, was ich mir vorgenommen habe.
Das, was auf der Bühne geschieht, ist das Ergebnis meiner Vorbereitung. Wer übt, um positive Vorstellungen und gute Gefühle zu sammeln, und um Musik zu interpretieren, hat weniger Raum für Angst.

Stress
Akuter dosierter Stress, wie wir ihn beim Lampenfieber erfahren, kann sich positiv auf unsere Leistungsfähigkeit auswirken. Chronischer Stress dagegen ist ungünstig für das Lernen und die Verfügbarkeit von Gelerntem.
Musikern ist manchmal nicht bewusst, wie sie in der Vorbereitung auf ein Probespiel, eine Prüfung oder ein wichtiges Konzert schon beim Üben Angst oder Stress organisieren. Indem sie sich z.B. verspannen, hemmen sie unbewusst den Lernprozess und üben auch ihren Zweifel! Da wir unsere Befindlichkeit immer "mitüben", sollten wir Üben unter Stress vermeiden und erst einmal für Wohlbefinden sorgen.
Bevor ich beginne zu üben, kann ich einen Augenblick meine Aufmerksamkeit auf mich selbst richten. Wie sitze oder stehe ich? Wie verschaffe ich mir Stabilität? Haben meine Füße aktiven Kontakt zum Boden? Fühle ich mich im Oberkörper frei?
Vielleicht bin ich unruhig und verspüre Anspannung in Kopf, Augen und Nacken. Kann ich die Spannung in Augen und Nacken verringern? Wie wirkt sich das auf meine Gesamtverfassung aus?
Wie ist es, von hier aus mit dem Spielen zu beginnen?
Zu wissen, was mir in diesem Moment gut tut, soweit möglich den richtigen Zeitpunkt für das Üben wählen usw. sind weitere Aspekte von Selbstmanagement, die die Effizienz des Übens entscheidend beeinflussen.

Selbstkompetenz statt Bühnenangst
Bühnenangst ist wie jedes andere Gefühl eine körperliche Organisation. Indem Musiker beim Üben lernen, ihren Körper als Instrument anders einzusetzen, verändert sich auch die Angst:
Eine gute Disposition, in der ich "festen Boden unter den Füßen" spüre, ist zugleich die Basis für eine gut funktionierende Atemstütze. Eine ezentrische, also in den Raum sich öffnende Ausgangshaltung, beim Üben wie im Alltag verinnerlicht, verhindert am ehesten die "Enge", die uns sonst auf der Bühne möglicherweise überfällt. Verlässliche Vorstellungen feinmotorischer Bewegungsabläufe lassen den Muskeltonus in kritischen Situationen nicht so in die Höhe schnellen, dass Streicher beispielsweise die Kontrolle über ihren Bogen verlieren.
Selbstbeobachtung führt zu Selbstbewusstsein und gibt uns den Schlüssel in die Hand, um uns selbst positiv beeinflussen zu können. Sinn und Ziel des Übens für den Musiker ist es, Einfluss zu nehmen auf das, was geschieht, und so seine Entwicklung zu managen.

"Wer lernt, ändert sich." (Manfred Spitzer)
Das Üben kann für Musiker ein "Spielfeld" sein, auf dem sie ihre Möglichkeiten der persönlichen Einflussnahme erproben.
Das Wiederholen stereotyper Abläufe kann Muster festigen, die Musikern möglicherweise nicht bewusst sind, sich aber hemmend auf ihr Spiel auswirken. Demgegenüber sollte das Üben ein kreativer Gestaltungsprozess sein, in dessen Verlauf sich der Musiker mit seiner Musik verändert.
Dies ist meines Erachtens auch bedeutsam im Hinblick auf die Erfordernisse der Musikerausbildung. Es ist erfreulich, dass Musikhochschulen mehr und mehr Angebote bereithalten, um die Entwicklung und Kenntnisse ihrer Studenten auf dem Gebiet der Musikphysiologie, Körperarbeit usw. zu stimulieren. Es ist wünschenswert, dass auch im Hauptfachunterricht in diesem Bewusstsein gearbeitet wird.
Ein solcher Unterrichtskontext erleichtert nicht nur den unmittelbaren Transfer auf das Instrument: Er ermutigt und befreit den Schüler zu Eigenständigkeit und Kreativität.
Künstlerische Professionalität ist ohne Selbstkompetenz nicht möglich. Selbstkompetenz ist die Voraussetzung für eine gelungene Entwicklung künstlerischer Persönlichkeiten.

Literatur
Spitzer M (2002) Lernen - Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg
Spitzer M (2002) Musik im Kopf, Schattauer Stuttgart
Spitzer M (2002) Schokolade im Gehirn, Schattauer Stuttgart
Spitzer M (2002) Die Macht der inneren Bilder, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg
Damasio A (2004) Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, List Verlag Berlin
Hildebrandt H (2002) Musikstudium und Gesundheit, Peter Lang Bern
Keleman St (1994) Forme Dein Selbst, Kösel Verlag München
Keleman St (1999) Verkörperte Gefühle, Kösel Verlag München